Steyrer Tagebuch - Sondernummer zum 12. Februar 1934
4 sie beträgt drei Schilling in der Woche . (Zur Erläuterung : Erich Hackl hat im Zuge unserer Recherchen im "Tagblatt" Vergleichs – zahlen gefunden - aus dem Jahr 1934: Damals hat in der Kleinmünchner Text il fabrik ein Arbeiter im Durchschnitt 28 S in der Woche verdient, der Generaldirektor freilich das 68-fache davon. Ein Normallaib Schwarzbrot hat damals 70 Groschen gekostet . Ein Huhn - wovon Arbeitslose oder Ausgesteuerte frei – lich nur träumen konnten - war fü r etwa drei Schilling zu haben.) Ernst Fischer schreibt weiter: Hunderte Kinder leben in Steyr , die als Nahrung ein– mal am Tag eine Schale Tee bekommen, sonst nichts, hunderte Kinder , die keine eigene Schlafstelle haben , viele , die nicht die Schule besuchen können , weil sie keine Kleider haben. Es gibt Menschen, die tage– lang im Bett liegen, weil sie weder Holz noch Kohle, noch Kleider noch Schuhe haben. Es gibt Familien, deren einzige Kost seit Monaten Wassersuppe ist , weil sie nicht einmal Kartoffel kaufen können . Auch der damals 21jährige Hans Habe war da– mals als Journalist in Steyr. Sein ur– sprünglich fü r die "Wiener Sonn- und Mon– tags-Zeitung" verfa ßter Artikel wurde später in mehr als achtzig Zeitungen des Auslandes nachgedruckt. Darin heißt es u.a.: Das ärgste Elend tobt in der Nähe der Fabriken , in der Arbeiterkolonie Ennsleiten . Hier haben die Menschen nichts zu essen ... Nur 366 Leute erhalten täglich ein Mittag– essen in der Kantine der Steyr- Werke . Ein– gebrannter Kohl und ein sechstel Brot . Tausende warten umsonst . Ein alter Arbei– ter ißt gierig, was ihm vom Betriebsrat gereicht wurde . Aber nur die Hälfte . Zu Hause warten seine Frau und drei Kinder. Er preßt die Menage-Schale an sich . Bahnt sich einen Weg. Hunderte strecken die Hände nach ihm aus. Die Bettler nach dem Bettler . ( ... ) Im Laufe eines Jahres sind die Hunde verschwunden . Man spricht nicht davon, aber in der Stadt des Hungers hat man Hunde getötet und gegessen . Es gibt Familien, die eine Woche lang nichts anderes zu essen hatten ... Besonders schlimm, weiß Hans Habe zu be– richten, erging es nicht nur den Kindern, sondern auch den alten Menschen : Die 328 in vier Anstalten untergebrachten Insassen der Versorgungsheime können nur so arm– selig ernährt werden, daß auch sie, um die Stadtverwaltung zu entlasten, betteln gehen müssen . So wurde ein offizieller Wochen– betteltag festgesetzt . Der Wochenbetteltag ist der Freitag. Da strömen die Pfleglinge der Armenheime auf die Straßen von Steyr und ziehen von Haus zu Haus ... In einem einzigen Geschäft klopfen an einem Freitag oft zweihundert bis dreihundert Bettler an , denn auch die Arbeitslosen und die hungern– den Kinder, die täglich betteln gehen , las– sen sich am Freitag von der Konkurrenz nicht verdrängen . Die "bürgerliche" Seite reagierte, wenn überhaupt, mit gedankenlosen, wenn nicht gar zynischen Platitüden auf die unbe- . schreiblichen Lebensumstände der Arbeiter– schaft . Ernst Fischer zitiert in seinem Bericht den christlich-sozialen Vizebürger– meister Marktschläger , dem zu all dem Elend vor allem aufgefallen war, daß - wenn es mit den Steyr-Werken nicht bald wieder auf – wärts ginge - die Bevölkerung von Steyr für die ' vorhandenen Existenzmöglichkeiten um 6000 oder 8000 Menschen zu groß sei . Der leitende Direktor der Steyr-Werke, Ing . Willi Herbst (der als Vertrauensmann der Bodenkreditanstalt in die Werksleitung ent– sandt worden war) hat seine Einschätzung der Lage auf einen markanten Satz redu– ziert : Solange die Arbeiter in den kleinen Gärten vor den Ennsleiten-Häusern noch Rosen anpflanzen anstatt Kartoffeln, so lange gehe es ihnen nicht wirklich schlecht . (Wie zynisch, wie tief verletzend dies er Satz empfunden wurde, hab ich daran erken– nen können, daß alle Leute , mit denen ich übers 34er-Jahr gesprochen hab , sich auch nach fünfzig Jahren noch daran erinnern konnten . ) Direktor Willi Herbst war dann der erste Tote in den Steyrer Februar-Kämpfen des Jahres 1934 . Steyr - die rote Hochburg Die Anfänge der Sozialdemokratie in Steyr sind wissenschaftlich noch kaum untersucht . Sie scheint sich aber nicht wesentlich frühe r oder später als in anderen Industrie– städten formie rt zu haben, auch wenn di es manche Kreise nicht wahrhaben wollten - wie etwa der liberale "Alpenbote" , in dem es 1871 hieß : Herr Werndl ist in Wahrheit ein Vater seiner Arbeiter, da ist kein Boden für social-demokratische Phantastereien und an der Liebe und Achtung für Herrn Werndl scheiterte schon so mancher Versuch, solchen Ideen auch in Steyr Eingang zu ver– schaffen. Das war Wunschdenken, nicht mehr. Denn: Wenn die Waffenfabrik zu wenig Aufträge hatte, entließ man eben Arbeiter . Notzeiten gab es besonders 1879/80, 1884/85 und 1894.
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