Steyrer Tagebuch - Sondernummer zum 12. Februar 1934

katastrophale Jahrzehnte. (Randbemerkung: Die Waffenproduktion in Steyr war niemals jener Segen für die Stadt, als den die Waffenproduzenten sie so gerne hinstellen oder hingestellt haben . Mag der Verkauf von Kriegsgerät, sofern er "läuft", auch höchst gewinnbringend sein, so ist er doch nicht vorherberechenbar. Das hat schon Werndl - und das haben noch mehr die Werndl -Arbeiter - zu spüren bekommen. Das Waffengeschäft blieb höchst schwankend , schreibt Manfred Brandl über die Werndl– Zeit . War 1870 Hochkonjunktur, so sanken bis 1872 Arbeiterzahl und Löhne um die Hälfte. Weitere Flauten im Waffengeschäft · und daraus resultierende Massenentlassungen gab es alle paar Jahre .) Die Stadtbevölkerung war verelendet: Das ist ein Satz aus einem Geschichtsbuch, man nimmt ihn zur Kenntnis, wie man auch er– läuternde Arbeitslosenzahlen zur Kenntnis nimmt. Was das wirklich bedeutet, das hab ich vor ein paar Monaten erst wirklich (sinnlich) begriffen. Als ich nämlich ge– meinsam mit meinem Freund und Kollegen Erich Hackl daran gegangen bin, ein Rund– funk-Feature über den Februar 1934 in Steyr vorzubereiten, da haben wir - auch mit Hilfe der Zeitungen - Augenzeugen von da– mals gesucht, und da hat sich eine Frau bei mir gemeldet, die zwar (auch sie!) nicht vor dem Mikrophon reden, mir aber schrift– lich ihre Erinnerung an die Zeit vor fünf– zig Jahren zukommen lassen wol1te. Und in dem Brief, den sie mir geschrieben hat, steht der Satz, der mich das Elend von da– mals auf einmal hat spüren lassen: Eine Nachbarin schloß immer das Fenster beim Kochen, um ja nicht Gulaschgeruch oder ähnliche Küchendüfte nach außen dringen zu lassen . Einer der Augenzeugen, der in unserem Fea– ture zu Wort kommt, hat mir später erzählt, wie die Arbeitslosen sich die Nasen platt– gedrückt hätten an den Auslagenscheiben beim Mütter in der Enge, wie sie die dort herumliegenden Delikatessen angestarrt hätten, die ihnen "der Mütter" aber auch nicht einfach habe schenken können. Nach einer Woche freilich seien sie ungenießbar und verdorben gewesen, und man habe sie in die Enns werfen müssen. Ein anderer Augenzeuge erinnert sich an die Bauern, die an den Markttagen mit ihren Lebensmitteln in die Stadt gekommen sind - und wie sie ihre Waren zu Mittag wieder heimführten, weil kaum jemand in Steyr sie hatte kaufen können. Rosig war das Leben am Beginn der dreißiger 3 Jahre wohl nirgends, das Elend in Steyr aber war so "sensationell", daß auch Jour– nalisten von auswärts nach Steyr kamen, um darüber zu berichten, wie eine ganze Stadt am Sterben ist. Der damals junge Ernst Fischer (der spätere Unterrichtsminister und - bis 1968 - KP– Chefideologe) berichtete am 1.1.1932 in der "Arbeiterzeitung" - außerordentlich drama– tisch und mit einem für unsere Ohren ganz ungewöhnlichen Pathos: Eine Stadt wird er– mordet. Immer tiefer krallt sich die Krise in die Häuser und Herzen . Sie kratzt den Mörtel von den Wänden, kratzt Risse in die Mauern, öffnet den Ratten Spalten und Löcher. Sie wetzt an den Kleidern der Menschen, zernagt den Stoff und das Leder, zerbeißt das Schuhwerk . Sie saugt den Kin– dern das Blut aus den Adern, wischt das Le– ben aus den Gesichtern, schabt das Fleisch von den Knochen und füllt die hohlen Wangen mit Schatten des Todes. Sie bläst die großen Feuer in den Fabriken und die klei– nen Feuer in den Öfen der Wohnungen aus, schlägt den Männern und Frauen das Ar– beitsgerät aus den frierenden Händen, deckt sie mit Not und Verzweiflung zu. Diese Stadt, die da ermordet wird, war einst eine Arbeiterstadt, nun ist sie nur eine Stadt der Arbeitslosigkeit . Und der Staat, der für nichtswürdige Spekul.;Jf;en und verbrecherische Bankiers Geld hat - für die Stadt der Arbeitslosen hat er kein Geld. Sollen sie auswandern! Sollen sie zugrunde gehen! Sollen sie von der Kri– se ermordet werden! Für die Arbeiter gibt's kein Notopfer in der kapitalistischen Welt. - Die sterbende Stadt ist Steyr. Jahrelang hat sie tapfer mit dem Tod ge– rungen. Jahrelang hat sie SOS-Rufe ge– sendet, immer wieder, immer eindringlicher. Aber wenn irgendwo fern im Eismeer eine Expedition um Hilfe ruft, hört es ganz Europa, nimmt ganz Europa Anteil, wenn einige Eisenbahnstunden nah Tausende um Hilfe rufen, hört man es nicht. Nun liegt Steyr in Agonie . Ernst Fischer konnte auch mit Zahlen auf– warten: Die Stadt hat 22.000 Einwohner, 11.750 sind gezwungen, die öffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen , um nicht buch– stäblich Hungers zu sterben . .Mehr als die Hälfte der Einwohner sind ausgeschaltet aus Arbeit und Verdienst - und die anderen gehen mit ihnen zugrunde. 1100 Menschen sind ohne jedes Einkommen, ohne irgendeine Rente, irgendeine Unterstützung; 400 die– ser Menschen sind Familienerhalter. Sie leben nur von der Gemeindeunterstützung;

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