Steyrer Tagebuch Nummer 24, Dezember 1984
26 BRIEF AUS BRASILIEN Selbst eine Stadt ... Samstags gegen Mittag beim Toni, wenn 's kleine Beuschl "mit" in "Luftlinie" serviert wird, merkt man natürlich nicht, daß sich in Steyr in den letzten Jahren etwas verändert haben sollte. Ganz im Gegenteil, es scheint einem · eher so, als ob es nicht nur bei der "Vorwärts" eine chronische Stürmersch,wäche gebe. Es mangele auch an gesellschaftlichen Sturmspitzen, wie man hört. Von spritzigen Linksaußen ga'nz zu schweigen. Kurzum, man befindet sich in einer Stadt, in der es genügt, die Tagebücher einmal im Monat zu schreiben, während dem Wochenblatt die Berichte über lokales Tagesereignis, schwarz auf ·weiß, verbleiben. Woran es wohl liegen mag, daß in einer Proletarierortschaft die Herzen und Hirne vom Kleinbürgerlich-Mittelmäßigen umschlungen werden ? Daß das Klassenbewußtsein auf die Schulzeit beschränkt bleibt, während sich erhebliche Teile der lokalen Intelligenz wie wild auf die Wiederherstellung ehemaliger Arbeiterviertel stürzen - sofern sie in Zentrumsnähe liegen ? Selbst die Basiskultur i$t von der Bild- in die Wohn- und Abstellfläche verschwunden, wie von einem gesagt wird. Und alle jene, die sie bereits von deren Geburt an tot geredet haben, fühlen sich bestätigt. Bin ich einer von ihnen ? Auch auf dem Weg von der östlichen Vorstadt ins Zentrum, vom Plenkelberg über Stadtbad und Kreisverkehr in, die Johannesgasse, hat sich wenig geändert. Oder doch ? Immerhin lächelt ein glücklicher - weil reich beschenkter - deutscher Multi vom Bahngleis herunter und man ist fast versucht, den Zeugen- Jehovas- Tempel als etwas Fortschrittliches, weil Neues, zu betrachten. Und hinter dem Kreisverkehr geht dann noch weiteres deutsches Kapital dem Ennstaler Häuslbauer zur ·Hand, zumindest solange er sie in der Brieftasche hat. Und es tut •sich die Frage auf, ob wohl die alte Welt im Absterben begriffen sei, obwohl es genug Aufgaben gäbe, die ihr Neuentstehen zu erkämpfen rechtfertigen würden. Das schreibt nun jemand, o.er das sinkende Schiff verlassen hat. Und der so gar nichts für seine Rettung tun will, vor ihr flüchtet ? Leicht scheint es, all diese Fragen zu stellen. Haben wir eigentlich jemals behauptet, es ginge um mehr als das nackte Leben ? Oder war das doch nicht so ernst gemeint ? Und während nichts pas~iert und doch alles geschieht: öffnen sich die Werkstore am frühen Morgen entwickeln die Menschen ihre Sorgen öffnen sich Menschen am frühen Morgen entwickeln am Werkstor ihre Sorgen Währenddessen hat der Gemeinderat einstimmig den Beschluß zum Ankauf , eines Notarztwagens gefaßt. Man merkt schließlich, daß es nicht einfach ist, diese Stadt zu lieben. Aber selbst eine Stadt kann nicht ohne Liebe leben. Steyr, 10.November 1984 Godo (G.St.) 1
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