Steyrer Tagebuch Nummer 22, Oktober 1984

22 Der Staat hat wieder einmal ein Buch in Beschlag genorrmen. Ein StaatsbUrger erkennt sich im Roman wie- ------------------------- der, ist beleidigt und veranlaßt die Beschlagnahme. Organe des Staates sch~1ärmen aus und kommen mit Li te – ra tur in Berilhrung. Dem Volk (dem ohnedies "apathi– schen", nach Th. B.) wird für eine Zeit 1 ang ein Stück Literatur entzogen. So weit, so schlecht. Aufregung über eine „Erregung" Der äußere Handlungsverlauf ist einfach: Der Ich– Erzähler sitzt in ein.em Ohrensess~l im Vorzimmer des Wiener Kleinaristokraten Auersberger und wartet, wie die Ubri gen "küns t 1 eri sehen" Gäste, auf das "künstle– ri sehe Abendessen", das zu Ehren eines Burgschauspi e- 1 ers gegeben wird. Er beobachtet diese "ehrenwerte" Gese 11 schaft, führt Se 1bs tgespräche über sie, fo 1gt ihr um 2 Uhr früh ins Speisezimmer zum "echten Plat– tenseer Fogosch", weiter ins Musikzimmer zum Kaffee, um dann im Morgengrauen in die Wiener Innenstadt zu fliehen, obwoh 1 er ei gent 1 i eh hinaus wi 11. Das "kilnst l eri sehe Abendessen" ist in den "perversen und stupiden und gefähr 1 i chen Achtzigerjahren" ange– setzt, von denen auf dieselbe gesel 1 schaftl iche Clique in die 50er Jahre zurückgeblendet wird. Die Gesellschaft: Das kleinaristokratische, alte Hie– ner Ehepaar Auersberger, in deren erlesener Wohnung in Wien (eine entsprechende Zweigstelle besitzt es in "Maria Zaal") das Ereignis stattfindeL Er, ein unbe– deutender Komponist in der "Webern-Nachfolge", sie, vor a 1 l em rei eh. Ihr Leben finanzieren sie a l 1 erdi ngs nur durch den Verkauf eigener Grundstücke. Die Wiener Schriftste l l eri n Jeanni e Bi 1 l roth, die sieh besser als die Virginia Woolf vorkommt und das auch bei jeder Gelegenheit betont. Der Wiener Maler Rehmden: "2. surrealistische Wiener Schule, Naturziesel ierer:: mit dem feinen Strich". 2 junge Schriftsteller, die nichts als revolutionär Sind. 2 steirische "Naturburschen", gedacht als Auflocke– rung. Der Burgschauspi e 1 er, der nach seinem verspäteten Eintreffen nach der Vorstellung am Akademietheater ("\~tl dente") die Konversation bestimmt. Schließlich der Ich-Erzähler, der sich am Gespräch nicht beteiligt, doch distanziert und.aggressiv alles beobachtet, schildert und kommentiert. Der Anlaß des Treffens ist vor al lern der Selbstmord Joanas, deren Begräbnis am Tag des "künstlerischen Abendessens" stattgefonden hat. Auch die Choreographin Joana hatte dieser Clique angehört. Sie hat die Kar– riere ihres Mannes, eines berühmten Tappisseristen, solange betrieben, bis er sie verlassen hat, und sie selbst daran zerbrochen isL Als 20-jähriger war der Ich- Erzähler mit diesem il lu– stren Kreis intensiv befreundet und involviert; als SO-jähriger haßt er ihn grenzenlos. Er hat in der Zwischenzeit jeglichen Kontakt abgebrochen, wodurch er sieh selbst den Haß dieser Gese 11 scha ft zuzog. Am Gehabe, der Konversation und am Umgang mit dem Tod . , Joanas entzündet sich die Verachtung des Er:zähl ers gegen diese "künstlerischen Leichen~ Der "Snob- und Geckmus i kschrei ber in der Webern-Nach– fo l ge" im maßgeschneiderten Loden besäuft sich wie seit 30 Jahren sinnlos, um nur noch Sätze, wie "die Menschheit gehört ausgerottet" zu l a l l en, sein Gebiß herauszunehmen, um die Hi nfä 1 l i gkei t des Menschen zu beweisen. Die Rücks i chts l osi gkeiten gegenüber seiner Frau in diesem Zustand gehören ebenfa l l s zu seinem kUns t l eri sehen Standard. ,leannie , die ehemals kritische Schriftstellerin, die nur noch "Kleinbürgerkitsch" schreibt und da für den österr. Staatspreis erhalten hat, der vom Kunstsena– tor, dem "s tumpfs innigen, ordinären, erzka tho 1 i sehen Kuns tmi ßbraucher und ku l ture l l en Umwelt verschmutzer", ver l i ehen wird, wi l l sieh nur in Szene setzen. Der Burgschauspieler hingegen beweihräuchert sich nur selbst. A 11 e hängen an seinen Lippen auch wenn er über seine verlorenen Handschuhe spr j cht. Seine tieferen geistigen Qualitäten kommen erst zum Vorsehei n, a 1 s als er von Jeannie wegen seines Lebensstils provoziert wird. Seine Naturverbundenheit (Titel: "Holzfällen"), die er der Geltungssucht Jeannies gegenüberstellt, 1 äßt ihn für den Er zäh 1 er kurzfristig vom "Kunstpopan– zen" zum "Phi l osophen" werden. Der Tod Joanas vereinigt diese Gesellschaft nicht aus Anteilnahme, sondern um ihr gesellschaftliches Ritual am Land fortzusetzen. Die Wiener Gesel 1 schaft "legt")

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