Steyrer Tagebuch Nummer 19, April 1984

24 . KREISKY ZUM JUDENTUM Im Tagebuch-Gespräch mit Bruno Kreisky ging es auch um die Rolle, die Juden in der So– zialdemokratie der Zwischenkriegszeit gespielt haben und dann allgemeiner um Fragen von Rasse und Judentum. Dazu sagte Kreisky folgendes: Es hat sicherlich in gewissen Kreisen einen latenten Antisemitismus in ganz Österreich gegeben. Aber eine echte Judenfrage hat es nicht gegeben. Der beste Beweis ist ja, daß zB Viktor Adler ein Mann jüdischer Herkunft war, gleichfalls Otto Bauer, und das waren die beliebtesten Führer der Arbeiterbewegung. Hätte es eine virulente Judenfrage gegeben, dann wären, beide nicht an die Spitze gekom– men. Zu der Zeit, von der wir reden, war die zio– nistische Bewegung ~ine Minderheitsbewegung unter den Juden. Sie ist sogar abgelehnt worden, zB dort, wo die große Masse der Ju– den gelebt hat, in Osteuropa, also in Polen und in Rußland. Die große Masse der Juden hat sich zB in Polen durch den jüdischen Bund vertreten gefühlt. Das war eine sozia– listische Kampforganisation, der Millionen Juden in Polen angehörten und die den Zio– nismus als kleinbürgerlichen Nationalismus abgelehnt hat. Sie hielten nichts von der Auswanderung, sondern pochten auf das ~echt, in ihrer angestammten .Heimat, in ihren Dör– fern und Städten zu leben. Hier wollten sie ihre jüdische Nationalität anerkannt bekom– men. Der Zionismus ist ja eine Erfindung von Herzl, einem westeuropäischen Juden. Daß der Staat Israel ein solches Ausmaß bekommen hat, ist eine Folge Hitlers. Der israelische Mini– sterpräsident beg~ht,eiae geschichtliche Täu– schung, wenn er sagt, hätte es Hitler nicht gegeben, dann hätte Israel 7 Millionen Ein– wohner. Das ist sicher nicht wahr. Denn: hät– te es . Hitler nicht gegeben, so hätten Millio– nen Juden in Polen und in Mitteleuropa wei– terexistiert und hätten keinen Anlaß gehabt, nach Israel auszuwandern. Ich will nicht sagen, daß die Juden in Ost– europa assimiliert waren. Sie haben in ihren Gemeinschaften gelebt und ihre Berufe ge– habt. Viele zehntausende Handwerker in Ost– europa waren Juden; Schlosser, Schmiede, Zimmerleute waren jüdische Berufe . Die übri– ge Bevölkerung waren in ihrer Grundsubstanz Bauern. Diese Judenfrage , als die der raffen– den Kapitalisten im Un terschied zu den schaffenden Christen hat Hitler erfunden,. ·Natürlich gab's auch die bi.i<r-gerlichen und kleinbürgerlichen Juden, in Mittel- und Westeuropa. Man könnte also sagen: die pro– letarischen Juden haben in Osteuropa gelebt und die klein- und großbürgerlichen Juden ha– ben in West- und Mitteleuropa gelebt. Sie haben also in gewissen Ländern eine ge– wisse dominierende Rolle im kulturellen Leben gespielt, daher hat es also gerade bei den Akademikern einep sehr starken Antisemitis– mus gegeben. Die österreichischen Akademiker waren Antisemiten par excellence. Mit Rasse hängt das aber eben nicht zusammen . Als die Hitler-Bewegung aufkam, hab' ich den Ehrgeiz gehabt, als junger Schüler des Au– stromarxismus ein Thema theoretisch zu behan– deln - wie Otto Bauer die Nationalitätenfrage Zwei Themen haben mich im Gefängnis besonders beschäftigt: 1. inwieweit Männer die Geschich te machen - das hab' ich aber dann aufgege– ben, weil da ist schon so viel gemacht wor– den. Dann hab' ich mich entschlossen, mich der Rassenfrage zuzuwenden. Darüber hat -es wenig wissenschaftliches Material gegeben . Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß diese ganze Rassenfrage, wie sie die Nazis präsen– tiert haben, der größte Humbug ist . Das war eine willkürliche Einteilung der Menschen. Rasse unter den Menschen ist etwas ganz ande– res. Da gibt es ein interessantes Phänomen: rela– tiv spät in der Geschichte hat es in Osteuro– pa eine starke Verbreitung des Judentums ge– geben, und zwar unter den Khasaren, aus einer rein machtpolitischen Situation heraus. Die Könige der Khasaren wollten sich weder Byzanz, also der Orthodoxie, noch dem Islam unterwerfen . Daher haben sie, da es of– fenbar eine Religion geben muß, das Judentum. gewählt. Das wird wissenschaftlich nicht ge– nügend gründlich bearbeitet, weil dort, wo man das tun müßte, nämlich in Israel, will man nicht nachweisen, daß die Ostjuden auch dort, nicht nur in Palästina, eine Wurzel haben. Es gibt Theorien, wonach die Palästi– nenser islamisierte jüdische Ureinwohner wa– ren . Dafür spricht ihre Ähnlichkeit mit den orientalischen Juden. Wenn die Juden keine Rasse sind - was sind sie dann?

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