Steyrer Tagebuch Nummer 15, November 1983

20 Literatur - Aus dem Roman „Freie Liebe" freitag abend . lotte geht ins kino . dobner klopft ihr auf die schultern und l äuft in die entgegengesetzte richtung davon. auf den straßen sind rnenschen unterwegs , die den arbeitsschweiß der vergangenen woche ins kanalsystem gespült haben und sich nun in ihrem besseren gewand in die vergnügtmgen des wochenendes stürzen . in den lokalen schäumt bier aus den zapfsäulen , dobner fährt auf der rolltrepI(e zum bahnsteig hin– auf . die schnellbahn ist fast leer . kurz vor MEIDLING überholt sie ein eilzug . wei– ter hinten sind autowracks aufgetürmt . dob– ner überquert auf dem zebrastreifen die straße und wartet auf den bus . von den dächern blinken leuchtreklamen herunter. das schaukeln des öBB- buses macht ihn schläfrig . die elektronische U hr über dem werkseingang , die kein ziffernblatt hat , zeigt : 21 uhr 33 . die birken auf den grünanlagen zittern im wind . dobner hält dem werksschutzmann, der in seiner loge vor sich hindöst , den werks– ausweis hin und geht über den beleuchteten hof zu den garderoben hinüber . als er beim ertönen der sirene die haile betritt, wun– dert er sich . außer dem meister , der in seinem glaskobel sit~t und schreibt , ist heute noch niemand angetreten . erst jetzt fällt ihm ein , daß im speisesaal eine ver– anstaltung stattfinden soll . vor tagen waren flugzette l verteilt wor– den , auf denen mitgeteilt wurde, daß l aut der urnfrage eines rneinungsforschungsinsti– tutes das hauptproblem der beschäftigten die schichtarbeit sei . um hier verbesserun– gen durchführen zu können , stand zu lesen , habe die betriebsleitung das INSTITUT FüR UMWELTHYGIENE von der universität wien be– auftragt , eine studie zu erstellen . hiefür werde eine befragung durchgeführt . sehr schön , denkt dobner , lieber über die arbeit befragt werden als arbeiten . gerade als er durch die schwingtür .aus schwarzem hartgurrmi , die wellen wirft , ins freie schlüpfen will, pfeifft ihn der meis– ter zurück . sie sind ja nur vorrübergehend bei uns, für sie trifft das ja nicht zu . sie bleiben da und reinigen einstweilen die fließbänder und die leitungsrohre. glauben sie aber nicht, daß sie sich einen lenz machen kön– nen . ich korrm einmal nachschauen herüber . er macht eine scharfe kehrtwendung und läßt dobner stehen . die stille in der halle wirkt gespenstisch . dobner wirft eine flasche mit speiseöl gegen die wand . jetzt, denkt er vor wut zitternd , wäre der zeitpunkt für die große rache für all den schweiß und die erniedrigangen gekommen . er ganz allein in diesem scheißhaus . jetzt könnte es granada spielen , jetzt könnte er sich austoben . er sieht sich die stösse von flaschen um– kippen , die fließbänder zertrümmern , in den ketchuptank pissen , die leitungsrohre zerfetzen . glassaherben schlittern über den aufgerissen~ kachelboden , ein elektro– stapler zerschellt an der wand , aus den ruinierten leitungen schießt sauce tartar und ketchup, der spiegel steigt immer hö– her , die maschinen , die er tag für tag verflucht hatte, versinken wie kriegs– schiffe . die wut, die er spürt , macht ihn schwinde– lig . auf dem plakat über dem waschbecken ist eine frau zu sehen , die neben ein paar männern mit einem schraubenzieher hantiert . GIBICHER LOHN FüR GLEICHE ARBEIT , steht darunter . jemand hat ihr mit filzstift einen bart und buschige koteletten auf– gemalt . betont langsam läßt dobner wasser in den kübel fließen und streut ein reinigungsmittel hinein . vor den stinken– den ketchupflecken, die er von den stahl– bändern schrubbt , ekelt ihm . das wasser im kübel verfärbt sich rot . er muß an wasserleichen denken , denen algen aus dem kopf sprießen . alle paar minuten geht er auf den gang hinaus , um zu rauchen . ·• kurz vor mitternacht kehren gut gelaunt die ,arbeitskollegen zurück . in kleinen gruppen bleiben sie stehen, unterhalten sich und lachen viel . dobner gesellt sich zu ihnen . na , wie wars , fragt er bronold , einen jun– gen mann , der einzige mit dem er b lsher hin und wieder ein paar worte gewechselt hat . interessant , sagt bronold , ein arzt hat einen vortrag gehalten . jetzt wissen wir endlich , wie gut _das , was wir tun, für unsere gesundheit ist . ab 24 uhr, hat der herr doktor ausgeführt , arbeitet der magen nicht mehr . der schichtarbeiter nimnt aber nach mitternacht noch eine jause zu sich . die bleibt dann bis vier uhr früh liegen . das kann auf die dauer zu schweren schäden führen. daß man am tag nicht schlafen kann , und dadurch die nerven stark angegriffen werden, haben wir auch schon vorher gewußt .

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