Steyrer Tagebuch Nummer 13, Sommer 1983
beitrag Ansichten eines Psychologen über einen atomaren Krieg: Bedrohung und mögliche Verhinderung Carl R. Rogers; Übersetzung ins Deutsche von Hans Hielscher Wir leben in einer schrecklichen Epoche der Weltgeschichte. Es ist durchaus möglich, daß wir unserem Untergang entgegen- gehen. Ich möchte als Bürger der Vereinigten Staaten reden, treu gegenüber ihren Grundsätzen und Idealen. Ich möchte aber auch als Psychologe sprechen, als Mensch, der sich stets der Persönlichkeits– entwicklung und der Verbesserung der menschlichen Beziehungen verpflichtet fühlte. Ich möchte meiner tiefen Besorgnis über die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines atomaren Krieges Ausdruck geben. Zunächst möchte ich auf einige der denkbaren fürchterlichen Möglichkeiten hinweisen. Fritjof Capra ist ein sehr angesehener Physiker. 1n seinem neuen Buch .,The Turning Point·· (1982) weist er darauf hin, daß ein atomarer Krieg mit der So– wjetunion bereits nach dem ersten Schlagabtausch eine halbe Billion Tote fordern würde. Der gesamte Krieg würde in 30-60 Minuten vorüber sein, fast niemand würde ihn in seinen Folgen überleben. Der Plan des Weißen Hauses für diesen Krieg ist im Ver – teidigungsministerium als „Gegenseitig sichere Ver– nich'tung" (Mutually Assured Destruction) be– kannt. Die Anfangsbuchstaben beschreiben es zu– treffend: MAD(= wahnsinnig). Capra·s Informatio– nen legen es nahe, daß das Weiße Haus Pläne für einen atomaren Präventivkrieg (nuclear first strike) gegen die Sowjetunion besitzt, für den Fall. daß es irgendwo in der Welt eine direkte Konfrontation mit den Russen geben würd·e. Das bedeutet. daß ein alles vernichtender Weltkrieg aus einem zunächst regional begrenzten Konfl ikt entstehen könnte, vorausgesetzt, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion geraten indirei<t über jeweils befreun– dete Streitkräfte in eine bewaffnete Auseinander– setzung. Aber es gibt bestimmt keinen regi"onal begrenzba– ren atomaren Krieg. Präsident Reagans Hinweis, daß ein atomarer Krieg auf Europa beschränkt wer– den könnte, bleibt unglaubwürdig, trotz der zwei– fachen Wiederholung. Und Minister Haigs Plan, eine Atomrakete von Europa aus abzufeuern, um den Russen einfach unsere Kampfkraft zu zeigen, weist sowohl auf eine Mi&ichtung menschlichen Lebens als auch auf eine Unkenntnis des psycholo– gischen Handel ns von Regierungen hin. Angenom– men. ein atomarer Krieg hätte begonnen und eine der Kriegsparteien stände im Begriff zu verlieren. Wer könnte meinen, der Ver lierer würde in einem solchen Falle nicht den alles-vernichtenden atoma- ren Drücker betätigen? Das würde unvermeidlich sein; ein zunächst begrenzt erscheinender -Krieg würde so das Ende bedeuten. Ganz schlimm ist es auch , daß beide Supermächte der Meinung sind, ein atomarer Krieg könnte ge– wonnen werden. Als unser gegenwärtiger Vize– präsident Georg Bush noch Präsidentschaftskandi– dat war, wurde er von einem Reporter im Hinblick auf einen atomaren Krieg interviewt. Bush wies darauf hin, daß er meine, ein atomarer Krieg sei gewinnbar. Der Reporter fragte: ,,Wie würde_n Sie einen atomaren Krieg gewinnen?" Bush : ,,Uber– lebensmöglichkeiten bestehen im Hinbl ick auf den militärischen Kontrollbereich, im Hinblick auf industrielle Fertigungsbereiche, für einen bestimm– ten Prozentsatz unserer Bevölkerung; außerdem be– steht die Möglichkeit, dem Gegner insgesamt mehr Schaden zuzufügen als umgekehrt. Das ist eine Ge– winnstrategie, und die Pläne der Sowjetunion ba– sieren auf einem verabscheuungswürd igen Gewinn– konzept bei einem atomaren Schlagabtausch." Re– po_rter: ,,Sie gehen davon aus, daß ungefähr 5 % überleben können? 2 %?" Bush : ,,Mehr als 5 oder 2 %. Wenn beide Parteien ihre gesamte Munition verfeuern würden, könnten mehr Leute überleben." (Quelle: Los Angeles Times vom 4. 1. 1980). Einige Fachleute gehen davon aus, daß ungefähr 15 % überleben könnten. Bush denkt das Undenk– bare. Meine Heimatstadt San Diego hat ungefähr eine Million Einwohner. Bush sagt, daß ungefähr 850 000 von uns getötet werden l<önnten, daß nur 150000 übrig blieben, die dann in eine letztlich tödliche rad ioaktive Umwelt entlassen würden. Und das nennt et siegen! Admiral Hyman Rickover, der Begründer der ato– maren Unterseeboot-Flotte und Fachmann auf dem Gebiet nuklearer Strategien, wurde in der Se– natsanhörung am 28. 1. 82 gefragt, wie er die Aus– sichten eines Atomkrieges beurteilte. Seine Ant– wort - Wesentliches zusammengefaßt : ,,Ich bin der Meinung, daß wir uns selbst vernichten werden; viel leicht wird sich danach eine bessere und klügere Gattung auf der Erde etablieren." ,,Die sich abzeichnenden Konsequen– zen si1+d so schrecklich, daß wir entwe– der dazu neigen, sie zu verharmlosen, ihre Bedrohlichkeit zu verschleiern oder sie ganz und gar zu verdrängen." Das gegenseitige Dilemma Welche Perspektiven ergeben sich angesichts dieser unglaublichen mörderischen Verhältnisse? Ich bin der Meinung, die sich abzeichnenden Konsequen– zen sind so schrecklich, daß wir entweder dazu nei– gen, sie zu verharmlosen, ihre Bedroh! ichkeit zu verschleiern oder sie ganz und gar _zu verdrängen. Wir lehnen es einfach ab, die Folgerungen in ihrer Bedeutsamkeit für unser Leben anzunehmen. Es müssen wohl Mechanismen solcher Art sein, die dazu führen , entsprechende Aussagen von Reagan, Haig und Bush einfach zur Kenntnis zu nehmen, die wirklich schlimme Richtung des Handelns unse– rer Nation und der Einsatzmöglichkeiten unseres militärischen Potentials gutzuheißen. Den Gipfel dieser selbstmörderischen Mentalität markierte der Präsidentenberater, Edwin Meese, in einer Rede am 1. März 1982: Er sprach vom Atom– krieg als von einer Sache, die „nicht ganz wün– schenswert" sei (,,something less than desirable") ! (Time, 29. März 1982, S. 20) ,,Eine solche Verharmlosung der Schrecken eines Atomkrieges wird auch in den populären Telespielen sichtbar, bei denen Raketen und Satel– liten Städte angreifen." Eine solche Verharml osung der Schrecken .eines Atomkrieges wird auch in den populären Telespie– len sichtbar, bei denen Raketen und Satell iten Städte angreifen. Ich beobachtete, wie eine Familie damit spielte. Bauten und Lebensräume der Städte waren unten am Bildschirm; Raketen und die noch stärkeren Killersatelliten kamen auf der Matt– scheibe von oben. Das Spiel bestand nur dari11, sie in der Mitte zu stoppen und zu zerstören. Aber häufig gelang das nicht und ich hörte dann Äuße– r~ngen wie „Mann, jetzt haben sie unsere Stadt er– w ischt". Wir machen den Atomkrieg dadurch vor– stellbar, daß wir ihn wie ein Spiel behandeln. Unter den jüngeren Leuten, die vielleicht tiefer von solchen Zeiterscheinungen betroffen sind, bewir– ken solche Vorgänge häufig Hoffnungslosigkeit. Die National Urban League berichtet, ·daß unter den Farbigen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren Selbstmord zur häufigsten Todesursache geworden ist. Diese bedrückende Erscheinung härigt sicherlich nicht nur mit dem Mangel an gegenwärtigen Le– benschancen zusammen, wohl auch mit der Hoff– nungslosigkeit im Hinblick auf die Zukunft. Zwei- 00
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