Steyrer Tagebuch Nummer 7, Dezember 1982

4 Zeitgeschichte Nur ein Zigeunerkind Geboren wurde , das Mädchen Sidonie Adlersburg 1933 . Ein Zigeunerkind mit schwarzen Haaren, dunklen .Augen und dunklem Hautton . Weggelegt wurde das Kind durch seine Mutter auf den Stufen nahe dem ' Eingang zum Landeskrankenhaus Steyr . Die ' Kindesmutter versah das Kind nur mit einem Zettel, worauf die nötigsten Angaben standen. Dieses Kind fand geraume Zeit später bei der Arbeiterfamilie Breirather in der Ortschaft Letten (Gemeindegebiet Sierning) · Aufnahme und erhielt die selbe Zuneigung wie der eigene Sohn und die Pflegetochter der Familie . Das Mädchen erhielt intensive Pflege, da es an der "Englischen Krankheit" litt. Das Mädchen gedieh, recht gut . Es wurde von den Nachbarn zunächst mit vorsichtigen Augen betrachtet, aber der Großteil der Leute gewöhnte sich an die äußerlichen Unterschiede, zumal ·das Kind freundlich war und schnell Kontakt fand . Ablehner gab es natürlich auch . Im Jahr 1938 wurden nach der Machtergreifung des National– Sozialismus gehässige Äußerungen aus der unmittelbaren Umgebung laut . So wurde nicht selten eine Entfernung des augenscheinlich "nichtarischen" Kindes gefordert . War doch plötzlich das vorher "Rote" Letten nazionalsozialistisch geworden und versuchte dies auffällig zu beweisen . Dennoch konnte der Pflegevater zweimal den Versuch einer Trennung des Kindes von der Familie verhindern . Eigentlich erstaunlich, da bekannt war, daß der Pflegevater als ehemaliger "Roter" nich t mit den Nationalsozialisten sympathisierte und deshalb mit Argusausgen beobachtet wurde . Inzwischen besuchte das Kind auch die Schule in Sierninghofen . Es wurde von seiner Lehrerin, obwohl diese als nazifreundlich galt , eigentlich nicht diskriminiert . Außerdem war es nicht selten , daß die kleine Sidi mit einem Leiterwagerl zu sehen war . Darauf lagen die Gegenstände, die damals gesammelt wurden und die die Kinder zu den Sammelstellen brachten . Ea kam das Jahr 1943 , in dem man unter dem Vorwand, man habe die Mutter des · n, dieses in Begleitung "NS-Schwester" Grömer (verehelichte Kraft) nach Hopfgarten in Tirol brachte. Wie sich später herausstellte, war die Auffindung der Mutter nur ein Vorwand, also eine Lüge . Was nachher geschah, läßt sich nur durch Aussagen von Menschen, die zum Teil nicht mehr am Leben sind, wiedergeben . Georg Fink, ein Bekannter der Familie Breirather, entdeckte bei einer Fahrt von Linz nach Steyr, anläßlich eines Fronturlaubs, am Hauptbahnhof Linz einen Güterzug mit zwei, mit Zigeunern besetzten, Waggons. Er wurde von einem verweinten Kind angesprochen. Er erkannte dieses als die Sidi, die ihn bat, die Mutter zu Hause zu grüßen . Sie erzählte ihm, daß man sie sehr weit fort bringe . Nach Polen, so habe sie gehört . Ein längeres Gespräch konnte nicht geführt werden, da der Zug bereits im Anrollen war. Mit Kriegsende wurde der Pflegevater des Kindes unmittelbar nach Einrücken der US- Truppen, auf Grund seiner antifaschistischen Einstellung, zum Bürgermeister von Sierning bestellt . Seine Nachforschungen über den Verbleib des Kindes waren zunächst ohne greifbares Ergebnis . Erst nach Konsolidierung der· Lage und als auch die Institutionen der NS-Verfolgten Nachforschungen anstellten, stellte man Spuren fest . Eine Wienerin, die als Krankenschwester in Auschwitz Dienst tat (ob als Häftling oder nicht, ist nicht bekannt) , gab an , daß sie sich an dieses Kind erinnern könne~ Es handelte sich um ein gepflegtes, gut genährtes Kind, welches man dann mit Typhusbakterien infizierte . Dieses zehnjährige Zigeunerkind Sidonie Adlersburg mußte jenen. Weg gehen, den die damaligen .Machthaber für "Nichtarier" vorgesehen hatten. Ist das Leben dieses Kindes , das nichts dafür konnte, daß es auf dieser -Welt war, daß aber wohl Anspruch auf dieses Leben hatte, so wenig wert , das nicht einmal ein Zeichen, eine Gedenktafel an dieses und die Geschehnisse erinnert? Ist das Andenken an dieses Kind weniger wert, als das Andenken an all die vielen , die als Soldaten dieses Regimes im letzten Weltkrieg gefallen sind? Wirklich "nur ein Zigeunerkind"? f. b.

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