Steyrer Tagebuch Nummer 6, November 1982

4 Leserforum Liebe Tagebüchler ! Vor allem möchte ich sagen, daß Euch weder ich noch sonst jemand in Steyr beneidet. Ihr schleppt auf Euren Schultern eine schwere Bürde durch die Welt: Ihr habt eine isolierte Kleinzeitung zu repräsentieren, die, obwohl sie so klein ist, am Leben bleiben will . Ich kann mir nur allzugut die höfliche Begräbnisstimmung vorstellen, mit der Ihr von Euren Lesern empfangen werdet, wenn Eure Zeitung eines Tages nicht mehr existiert . Ich höre beinahe das unterdrückte Flüstern ihrer Anteilnahme . Und ich weiß auch, daß Ihr mit Würde und Weisheit versuchen werdet, Eure Zeitung zu repräsentieren . Aber genau davor habe ich Angst, Liebe TAGEBÜCHLER. Genau das macht mir "Sorgen": daß Ihr "überdemokratische" und "hochalternative" Menschen seid, die nicht nur über "große redaktionelle Fähigkeiten" verfügen, sondern auch über ein "hohes Maß an Gerechtigkeit'' und untrüblicher Willenskraft. Aber Eure Leser schätzen das nicht. Die Leser Eurer Zeitung schätzen das Gegenteil. Man kann nur durch Härte und Rücksichtslosigkeit Eindruck machen. Nur wer sich wie ein Wilder gebärdet hat Aussicht auf Erfolg: wenn Ihr in Euren "Mußestunden" die Zeitung zusammenstellt (also gewiß nicht jetzt), dann habt Ihr im gleichen Augenblick verloren, wo der Leser eine bestimmte "Perfektion" in Eurer Zeitung entdeckt . Alles was zu perfekt ist wird uninteressant. Deshalb macht eine wirklich gute Zeitung am Beginn ihres Erscheinens ein paar haarsträubende Fehler, um seine Leser irrezuführen und vor den ·Kopf zu stoßen, um sie glauben zu machen, daß sie bei dieser neuen, systemlosen Zeitung auf alles gefaßt sein müssen . Das macht eine Zeitung attraktiv. Perfektion ist schädlich, alternativ demokratisches Verhalten ein schwerer Nachteil. Und deshalb, liebe TAGEBÜCHLER, beunruhigt es mich so sehr, wenn Ihr in Eurer Zeitung mit ruhiger Stimme die perfekte Selbstbemitleidung zu Papier bringt, wenn Ihr Eure Leser an Euer feierliches Versprechen, eine Zeitung für Sie zu schreiben, erinnert , aber schön brav Euren Kummer von der Seele schreibt, der keinen Menschen interessiert, wenn Ihr wie ein Kinderblatt immer an die Gebote erinnert, wie man alternativ und richtig zu leben hat, ohne den Problemen wirklich auf den Grund zu gehen. Das macht keinen Eindruck mehr. Da wäre es viel besser gewesen , vor Eure Leser zu treten und einzugestehen, daß wir überhaupt keine Ahnung haben, wi e man eine Zeitung macht und was wir beabsichtigen darin zu schreiben, obwohl wir wissen, daß wir aller Voraussicht nach - scheitern werden aber wir beginnen trotzdem, noch heute abend oder spätestens morgen früh, und es kümmert uns nicht, wenn man uns eines schönen Tages dafür in der Luft zerreißt . Laßt uns doch um Himmels willen auf "professioneller Basis " als eine Zeitun~ der Verrückten erscheinen. Laßt uns gefährlich sein, und die Leser ins Dorotheum tragen . Ja, wär Dein Geschreibsel ein Mist: Wenns nur "literarisch" ist ! Dann wird es berochen, beäugt und besprochen - Bloß: ob's auch das Publikum frißt? Eugen Roth und Euer Erich Fröschl Steyr, 82/10/01

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