Stadt Steyr und der Weltkurort Bad Hall

©urica Handel-Mazzetti. 59 Daß Handel-Mazzetti keine Wiener Dichterin geworden ist, bedeutet Reichtum für uns. Sic schrieb wohl einen „Wiener Roman", aber in dem schönen Konzert ihrer Werke spielt er nicht die erste Rolle. Und warum ist sie keine Wiener Dichterin geworden? Hiezu mag nicht wenig ihre Ab­ stammung beigetragen haben, dann auch ihre persönliche Veranlagung und ihre Erziehung. Die altadeligc Familie der Handel ist zur Zeit der napoleonischcn Kriege aus dem Lande der poesiebegabten Schwaben, aus Württemberg, nach Österreich eingewandert. Enricas Urgroß- vater, ein Beamter des deutschen Ordens zu Mergentheim, war mit der kunstsinnigen Holländerin Julie von Precn vermählt gewesen, ihr Großvater aber mit einer Baronesse Karolinc Mazzetti aus Mailand. Ihre Mutter stammte hinwieder aus einem alten ungarischen Geschlechte. In der Ahnentafel der Enrica Handel-Mazzetti spielt also Wien keine Rolle. Vielmehr leben in dieser österreichischen Dichtersecle verschiedene Volksseelen, könnte man mit Carnot sagen. Wer vom Leben der Handel-Mazzetti lesen will, darf nicht außergewöhnliche Geschehnisse erwarten. Denn ihr Leben vollzieht sich ferne von der unruhevollen drängenden Welt, ferne von der sogenannten Gesellschaft. Sie führt ein Einsiedlerleben, ausgefüllt von Arbeit und Pflichtcn- crsüllung, das nur von wenigen Stunden der Erholung unterbrochen wird. Im öffentlichen Leben tritt sie fast niemals hervor und auch ihren Freunden gönnt sie nur spärliche Stunden des Jahres zum mündlichen Gedankenaustausch. Nur dadurch ist cs ihr möglich, ein reiches Innenleben zu führen, das nach literarischer Gestaltung drängt, einen weitverzweigten schriftlichen Gedankenaustausch zu pflegen und an allen literarischen Ereignissen lebhaftesten persönlichen Anteil zu nehmen. Sorgfältige Erziehung und planvoll geleiteter Unterricht bereiteten ihr späteres Leben und ihren literarischen Aufstieg vor. Das licbestarke Herz und der kunstverständige Sinn ihrer Mutter — der Vater starb bereits vor der Geburt Enricas — übten auf ihr Seelenleben wohl den stärksten Eindruck. Die Kunst der Töne, der Farben und der Sprache nahm frühzeitig von ihrem Geiste Besitz. In der Bürgerschule pflegten der Direktor und vor allem der Deutschlehrer ihr aufkeimendes Talent. Im Burgtheater begeisterte sie sich an der Kunst Charlotte Wolters, Sonnen­ thals und Reichmanns, im Belvedere an den Bildern van Dyks und Sassofcratos, die Oper aber veranlaßte sie zu eigenem Schaffen. Ihre weitere Ausbildung leiteten die Germanisten Dr. Wiedenhofer, der Akademiemaler Rcinhold. Bei ihrer literarischen Schulung spielte dann der Univcrsitätsprofessor Robert von Zimmermann eine hervorragende Rolle, der auch noch das Erscheinen ihres ersten Werkes „Mein­ rad Helmperger" (1897—181)9) mit freudiger Genugtuung begrüßen konnte. In ihrer geistigen Entwicklung darf das Jnstitutsjahr in St. Pölten (1886—1887) nicht übersehen werden. Warm pulsierendes religiöses Leben übte hier den nachhaltigsten Eindruck auf sic aus, so daß manche Hauptgestaltcn ihrer Werke, wie Rita und Else Walch, nur aus dem Erlebnis dieses Jahres heraus zu. verstehen sind. In das öffentliche literarische Leben trat sic im Jahre 1890 ein. Seit 1895 veröffentlichte sie Aufsätze in der „Wiener Zeitung". Eine Reihe von Dramen, Schwänken und religiösen Spielen aus ihrer literarischen Entwicklungszeit sammelte Johannes Eckhardt in zwei Bänden. Er konnte seiner Arbeit die Worte des bedeutenden Schweizer Dichters I. V. Widmann voranstellen: „Sic hat sich im klösterlichen Spiele als eine Dichterin ausgewiesen, der auch auf der weltlichen Bühne große Erfolge beschieden sein werden, wenn sie nur will." Doch nicht dem Drama wollte sie sich zuwenden, sondern der epischen Dichtung, dem kultur­ historischen Roman. Ihre Novellen, wie „'s Engerl" und „Fahrlässig getötet", weisen in ihrer

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