Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 92 - Warum sollte sich nicht ebenso wie auf den Abstammungszusammen– hang auch auf die gleiche Berufstätigkeit ein Standesbewußtsein stützen und also auch der Beruf allein die Grundlage für eine Standbildung abgeben können? Tönnies selber scheint diese Frage bejahen zu wollen, da er sagt, daß Stände auch in der modernen Gesellschaft noch insofern vorhanden sind, als sie von den An– gehörigen bestimmter Bevölkerungsschichten „gedacht und ge– wollt" sind. Aber dann stellt er doch fest, daß in diesem Bewußt– sein „Elemente" enthalten sind, ,,die keinen hinlänglichen sach– lichen Grund haben, sondern lediglich auf Selbstgefühl, auf An– sprüchen und Einbildungen beruhen". Diese Feststellung macht der Soziologe Tönnies, der wohl weiß, daß Bewußtseinsbeschreibung und Psychologie noch nicht die Soziologie ausmachen. Ist es doch gerade eine Hauptaufgabe der angewandten Soziologie, das Über– einstimmungs- oder Abweichungsverhältnis des Bewußtseins einer Menschengruppe von ihrer wirklichen sozialen Lage aufzuzeigen und zu erklären. Das gehört ja zum Grundthema der soziologischen Ideologienlehre. Für die ursprüngliche Begründung und die fort– dauernde Kraft des Standesbewußtseins ist, wie Tönnies nicht ver– kennt, der Blutszusammenhang der Endogamie in einer Menschen– gruppe eine unentbehrliche Voraussetzung. Dem entspricht seine Feststellung, daß auch in den sogenannten „Berufsständen" der modernen Gesellschaft, diesen berufsständisch sich interpretierenden Resten alter Geburtsstände, sowie auch in den analog zu ihnen auf– gefaßten neugebildeten Berufszusammenhängen „die Vererbung des Standes deutlich erkennbar" ist. Eine soziale Schicht ist eben nur in dem Grade Stand, wie in ihr das Prinzip der Abstammung und der Endogamie wirksam ist. Die Abgeschlossenheit in übereinstimmender Lebensführung und gemeinsamer Ehre, die das am meisten in die Augen fallende Merk– mal des Standes bildet, ist nur gesichert durch das andere Wesens– merkmal des generationenverbindenden Geblütsrechtes und des ex– klusiven Connubiums 1 • Wäre Schwer auch in diesem Punkte der strengen soziologischen Begriffsanalyse und Terminologie Freyers gefolgt, so hätte seine Darstellung des Verhältnisses von mittelalter– licher Ständeordnung und neuzeitlicher Leistungsgemeinschaft an Klarheit gewonnen. Schwer hat gezeigt, wie im Mittelalter die be– stehenden Geburtsstände in zunehmender Weise von kirchlicher 1 Vgl. außer Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Leipzig-Berlin 1930, 268 auch Franz Steinbach, a. a. 0. 76.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2