Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters
- 83 - alte Problem wieder gestellt und zugleich die neue Lösung ange– deutet. Auf den ersten Blättern könnte es noch scheinen, als sei das Ziel die Wiedereinsetzung des ausgefallenen dritten Standes in seine Rechte und eine gerechtere Verteilung von Geltung und Leistung auf die drei Gruppen eines ständischen Gesell– schaftsbaus. Aber schon bald hört der Verfasser auf, die Leistungen zu wägen, und beginnt, die Köpfe zu zählen. Das ständische Prinzip der Qualität, das schon 600 Jahre zuvor Thomas von Aquin 1 unübertrefflich in die Worte gekleidet hatte: „Je wertvoller das zur Gemeinschaft beigesteuerte Gut, desto höher der Rang", legt die Führung nieder. Das extrem-demo– kratische der Quantität nimmt sie auf. In Ziffern und Tabellen rechnet Sieyes zusammen, wie wenig die beiden ersten Stände zahlenmäßig bedeuten, und wieviel der dritte. Rousseau schaut ihm über die Schulter, und schon in den berühmten Junisitzungen des Jahres 1791 beseitigt die konstituierende Nationalversammluni nicht nur alles herren- und machtständische Wesen, sondern jegliche Ständeordnung mit Stumpf und Stiel. 4. Was damals in Frankreich fiel, um in dieser Form nicht wieder aufzustehen, kam alsbald nun auch im übrigen Europa, auch auf deutschem Boden, ins Wanken. Indes der Überschwang der ersten Revolutionsbegeisterung war hier selbst in der Jugend bald abgeebbt. Schon bald beginnt sich in allen besonneneren Köpfen die Überzeugung Bahn zu brechen, daß die wahre Lösung in einem Ausgleich liegen müsse zwischen den in den„Menschen– rechten" der Revolution zwar bis zur Unkenntlichkeit ver– zerrten, in ihrem innersten Kern jedoch christlichen Forderungen menschlicher Würde und Freiheit, und dem Wahren und Not– wendigen, das bei aller zeitweiligen Verderbtheit doch auch der ständische Gedanke in sich trug. Mit anderen Worten: Als Synthese zwischen Revolution und Gegenrevolution springt nun aufs neue die berufsständische Idee auf, die Jahrhunderte lang gegen die übermacht der Herr– schaftsstände nicht hatte durchdringen können. Denn in der Tat ist der Beruf mit seiner doppelten individuellen und sozialen Verwurzelung die Brücke vom Menschen, der in der alten Ordnung sooft vergewaltigt worden war, zur Gesellschaft, die wiederum das Ungestüm der Revolution mit dem Untergang bedrohte. Was 1 Summa theol. I qu. 108 a. 2 ad 2.
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