Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 78 - sich betätigt, und dessen dienende Glieder doch selbst wieder nur vom Ganzen her Sinn und Leben empfangen. Durch die Gedankenwelt des christlichen Altertums und Mittelalters zieht sich dieser uralte, über Platon vieJleicht rück– wärts in den fernen Osten hinüberweisende Vergleich anscheinend in zwei Formen hindurch, die sich aus einer christlichen und einer antiken Quelle herleiten, untereinander aber in beständige Berührung treten. Aus der paulinischen Christusmystik (Röm. 12, 4 ff.; I Kor. 12, 12 ff.; Eph. 4, 25; 5, 29 f. u. a.) kommt die erstere Fassung her: die Auffassung der Gotteskinder und Christus– brüder als der Glieder des einen Leibes Christi, in dem Haupt und Glieder zu einer geheimnisvollen Lebenseinheit verbunden sind. Auf den Wegen, auf denen die Philosophie des Altertums, zunächst die platonische, dann die aristotelische, dem Mittel– alter sich nähert und in seine theologisch-philosophischen Ge– dankensysteme eingeht, findet daneben auch die rein philoso– phische Ausformung Eingang. Wann und wie gewinnen beide Bedeutung für die mittelalterliche Ständelehre? Da wo der Begriff der Kirche als gliedlicher Einheit, also der religiös-biblische Gedankenkomplex, den Ausgangspunkt bildet, vollzieht sich die Einbeziehung der weltlichen Berufe und Berufsgruppen durch die allmähliche Ausweitung des engeren Begriffes der „Ecclesia" als der hierarchischen Ordnung der Weihestufen, der Geweihten und ihrer „ordines'' zum weiteren Begriff der „Christenheit", in der auch das Laienvolk mit seinen Lebensordnungen immer bedeutsamer hervortritt. So wendet zu Anfang des 12. Jahrhunderts der geistig ungemein bewegliche Honorius von Augustodunum 1 die Paulusstelle Eph. 5, 23 auf die ständischen Gruppen des christlichen Volkes an, vergleicht die Apostel und Lehrer mit den Augen, die Fürsten mit den Ohren, die lehrenden Priester mit dem Mund, die kämpfenden und schützenden Ritter mit den Händen, endlich die Bauern, wie wir schon hörten, mit den Füßen , da sie den ganzen Körper tragen. Das organische Denken bleibt hier also religiös gebunden, an die Offenbarung und ihre Quellen geknüpft. Darum lag es nahe, auch andere biblische Bücher nach Stellen zu durchsuchen, die eine ähnliche allegorische Deutung, wenn auch kühnster Art, 1 So in dem im Mittelalter „beispiellos erfolgreichen" (Endrcs, a. a. 0 .) Elucidarium (Migne PL 172, 1128); in der Expositio in Cantica canticorum (das. 361); in der Predigt auf Quinquagesima (Speculum Ecclesiae, das. 874).

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