Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters
- 58 - die keine äußere Dienstbarkeit gefährden kann, auch weitaus mehr als ein schwächlicher Trost und ein Ausweichen vor be– rechtigten Ansprüchen, die zu erfüllen die Kirche nicht imstande oder nicht willens war. Nur der zuvor vom Christentum innerlich freigemachte und zum Bewußtsein seiner Menschen- und Christen– rechte Erwachte war überhaupt fähig, sich künftig auch gegen eine Gesellschaftsstruktur zu erheben, die ihrem innersten Wesen nach noch eine vorchristliche war 1 • Daher ist auch die ganze spätmittelalterliche soziale Reformbewegung von diesen reli– giösen Gedanken inspiriert. Ihre demagogische Verzerrung und Überspitzung mag man immerhin auf die Wühlarbeit der Sekten zurückführen, aber zuletzt steigt doch in ihr die durch das ganze Mittelalter lebendig gehaltene urchristliche Tradition sichtbar an den Tag herauf. 2. Auflockerung der herrschaftsständischen Ordnung durch den Berufsbegriff. a) Auch eine auf herrschaftsständischer Grundlage, auf dem natürlichen Übergewicht von Blut und Erbe, Macht und Habe beruhende Ordnung kann ihre Aufgabe an der mensch– lichen Gesellschaft erfüllen, wenn sie Träger eines menschlich– sittlichen Ordnungswillens ist, und wenn sie sich auch bei höher– steigender Kultur und Gesittung vor dem erwachenden Per– sönlichkeits- und Freiheitsstreben der Untergebenen innerlich zu rechtfertigen vermag. Daß das Altertum vor der Aufgabe versagte, sowohl das Herrschen wie das Dienen zu einer sittlichen Leistung zu erheben, sowohl die Freiheit des von körperlicher Arbeit Befreiten wie die Gebundenheit des mit ihr Belasteten in einem höheren sinnvollen Ganzen wieder miteinander zu ver– söhnen, hat schließlich seinen Untergang herbeigeführt. Hier war Herrschen unerträgliche Willkür geblieben, Gehorchen ebenso unbegreifliches und unerklärliches Müssen; Nichtarbeiten frivoles Genießen, Arbeit der Hände in dumpfer Resignation hingenom– menes Schicksal. Daher ist es ein erstes unvergängliches Ver– dienst des christlichen Mittelalters gewesen, daß ihm in jahr– hundertelangem zähen Bemühen eine innere Auflockerung dieses machtständischen Gefüges gelang, auch als es in seinem äußeren Gerüst noch feststand. Und da auch diese Erneuerung 1 Rubinstein, a. a. 0. 4.
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