Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters
- 37 - Es gibt nur eine wahre Freiheit: sie ist da, wo der Geist des Herrn ist (2 Kor. 3, 17), und keine Menschengewalt vermag sie zu mindern oder zu nehmen. Und es gibt nur eine Knechtschaft, die den Christen schrecken, ehrlos und elend machen kann: die Knechtschaft der Sünde. Mit diesem „Umsturz der Werte", der eine zweite tragende Stütze der aus dem Heidentum stammenden Gesellschaftsordnung innerlich aushöhlte, bevor sie noch äußerlich völlig zu FaIJ gebracht werden konnte, bereitet sich abermals schon lange vor Beginn der Neuzeit eine kommende Umgestaltung der abendländischen GeseJlschaft vor. Paulus spricht, wie zu dem Sklaven der römischen Kaiserzeit, so auch noch 1000 Jahre später zu dem unfreien Manne des mittelalterlichen Grundherrn. So bei Rather von Verona: ,,Bist du ein Unfreier? Sei getrost! Du wirst ein Freigelassener des Herrn sein, wenn du deinem irdischen Herrn getreulich dienst." Und bei Johannes Guallensis: Nur die Knechtschaft der Sünde ist wahrhaft zu fürchten. Wer freien Geistes ist, soll sich über die äußere Unfreiheit nicht all– zusehr betrüben. Oder bei Alexander Neckam: ,, Hat Christus euch befreit, so seid ihr wahrhaft Freie. Denn was ist die Freiheit, deren die Weltkinder sich rühmen, als eine verhülJte Knechtschaft (palliata servitus) ?" Darum sind auch diejenigen doppelt elend zu nennen, die zu dem schweren Joch äußerer Abhängigkeit auch noch die Last der Sünde durch das Leben schleppen 1 . Daß dieser unerbittliche Anspruch auf die wahre Freiheit für die Seele und das Gewissen nicht vor der Zeit auch auf die sozialen Belange ausgedehnt werden konnte, wurde schon ange– deutet. Vor der Zeit, das heißt bevor er selbst innerlich zu ihr herangereift war, hat der mittelalterliche Mensch aber auch selbst nicht an diese Freiheit gedacht und sie nicht gefordert. Nicht um die Erweiterung seines individuellen Freiheitsraumes kämpft er - Jarrett 2 weist das an zahlreichen Beispielen nach -, sondern um eine Ordnung, die ihm die vorhandene Wirksphäre sicherstellt, um ein Recht, das sie ihm verbrieft. Nicht um „Freiheit" in unserm neuzeitlichen Sinne geht es ihm, sondern um „Freiheiten" im Sinne rechtlicher und vertraglicher Ab– machungen, in deren Schutz er sich geborgen weiß. Andererseits aber ist der Hinweis auf die innere Freiheit des Christenmenschen, 1 Ratherius Ver., a. a. 0. 175; Johannes Guallensis, Communiloquium II Dist. I c. 2; Alexander Neckam, De naturis rerum II c. 155. 2 a.a.0.94f.
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