Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters
- 56 - für lange Zeit äußerlich ungebrochene schicksalhafte Ungleich– heit nach Geblüt, Recht und Rang von innen her zu zersetzen beginnen, hat Anton E. Schönbach schon in seinen Studien über Berthold von Regensburg richtig gesehen 1 • Denn was man immer über die gewiß reichlich phantasievolle Ständelehre der mittelalterlichen Volkstheologie sagen mag: sie wollte doch augenscheinlich hinauskommen über eine tief unbefriedigende Gegenwart, und war von der Ahnung getragen, daß der Aufbau einer christlich gewordenen Gesellschaft anders und besser begründet sein müsse, als in einer höchst anfechtbaren Verteilung von Geburt, Macht und Besitz. In den Darstellungen der christlichen Sittenlehre, die in den gelehrten theologischen Summen ihren Platz haben, bald aber auch schon in handlicherer Form für den praktischen Ge– brauch der Prediger und Seelsorger auftreten, gibt das Kapitel von den gegenseitigen Pflichten der Herren und Untergebenen Gelegenheit, an die Menschenwürde selbst des geringsten Eigen– holden zu erinnern. Er soJI nicht nur als Christ anerkannt werden und Gelegenheit zur ErfülJung seiner religiösen Pflichten (Sonn– tagsmesse, Sakramentenempfang) haben, sondern mit großem Nachdruck drängt insbesondere Antoninus von Florenz auch auf eine „humane" Behandlung in gesunden und kranken Tagen und auf Ehrfurcht vor dem Gewissen, das weder durch Zwang zur Heirat, noch durch Beschränkung der Testierfreiheit oder durch unsittliche Zumutungen vergewaltigt werden darf. Und diese Forderungen erhebt er unverkürzt auch für den proleta– rischen Lohnarbeiter der blühenden Florentiner Wollindustrie, den neuen „servus" einer heraufkommenden neuen Herrschafts– ordnung2. b) Der große Gedanke der wesenhaften Gleichheit alJer Menschen, den hernach das Humanitätszeitalter auf den Schild erhob, ist ebenso eine erst später säkularisierte urchristliche Idee, wie der ihm nebengeordnete Begriff der Freiheit. Auch dieser kommt aus einer überirdischen Welt und hat gleicherweise vielfach seine wahre Herkunft vergessen, als er ins soziale und bürgerliche Leben übertrat. Christlichem Denken sind die Ab– stufungen menschlicher Freiheit und Unfreiheit ebenso wesenlos, wie alle anderen äußerlich-vergänglichen Werte und Unwerte. 1 a. a. 0. Bd. 155, 29. 2 Summa theol. 111 tit. 3 c. 4, 5; tit. 8 c. 4.
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