Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

53 wirtschaftlichen Entwicklung, um mit Seheier zu sprechen, den sittlichen Kräften des Christentums „die Schleusen öffnete": als gegen Ende des Mittelalters in allen Ständen ein gesteigertes Selbstbewußtsein sich bemerkbar macht, die Auflehnung gegen eine unerträglich gewordene Bedrückung besonders in der bäuer– lichen Bevölkerung mächtig um sich zu greifen begann und, viel– leicht in Verbindung mit der Armutsbewegung, zuweilen sogar zu einer förmlichen Idealisierung der Armut und Niedrigkeit und der gleich Christus ihr Kreuzesjoch tragenden arbeitenden Stände führte 1 • a) Ziel und Grenzen dieser Aufgabe des Christentums hat Paulus schon erkannt, als er sich mit der Sklavenfrage ausein– anderzusetzen begann, die 11och auf lange hinaus das Problem der sozialen Ungleichheit in seiner schärfsten Zuspitzung dar– stellte. Die von ihm aufgestellte Unterscheidung zwischen der Gebundenheit des Körpers und der Freiheit der Seele, zwischen den Sklaven der Menschen und den freigelassenen Christi, zwischen der Ungleichheit vor den Menschen und der Gleich– heit vor Gott bleibt für die gesamte kirchliche Literatur des nächsten Jahrtausends in allen Zweifelsfragen der unverrückt feststehende Leitstern, und in immer wieder neuen Wendungen wandelt sie die packenden paulinischen Antithesen ab 2 • Für sie galt es, das „aufrechte Würdegefühl des Christenmenschen", dieses unschätzbare Geschenk des Christentums an die abend– ländische Kultur 3 , auch im Ärmsten und Schwächsten, aller sozialen Entrechtung zum Trotz, wachzuhalten. Und gerade in dem unentwegten Kampfe für dieses Ziel hat die mittelalterliche Kirche, wie sogleich noch zu zeigen ist, den ersten Grundstein für eine neue, auf dem Wert und der Leistung der sittlichen Persön– lichkeit beruhende Sozialordnung in den Boden gesenkt. Hier war eine Gelegenheit zu rhetorischen Kontrastwirkungen gegeben, die sich vor allem die franziskanische Volkspredigt nicht ent– gehen ließ. Dem Herrendienst, den die Untergebenen mit dem .1 Fr. Bczold, Die „ar:nen Leut e" in der deutschen Literatur des späteren '\fütelalters, in: Histor. Zeitschrift 41 (1879) 1 ff. Auch: Aus Mittelalter unC: Renaissance, München und Berlin 1908, 49 ff. 2 Vergl. die zahlreichen Belege bei Carlyle, a. a. 0. 111 ff., 195 ff. und F. X . Kiefl, Die Theorien des modernen Sozialismus über den Ursprung des Christen– tu:ns, Kempten und München 1915, 56ff., l86ff. 3 Siegrnund Rubinstein, Herrschaft und Wirtschaft, a. c>. 0. 103 ff. , •. n i , . , , ~:;.. !R:D SOZIALGESCHICHTE UNIVERSliÄT-WIEN

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