Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 52 - jener unmerkliche aber stetige Aufstieg aus naiver Gemeinschafts– gebundenheit zur Selbstwerdung der Persönlichkeit entgegen– kam, in dem auch ganze Völker und Kulturen ihren Reifungs– prozeß und den Übergang von der Jugend zum Vollalter erleben. Bevor diese innere Befähigung zum Gebrauch größerer Freiheit erreicht war, hätte jede vorzeitige Entlassung aus harten aber notwendigen Bindungen nur zerstörend wirken können. Nur dann, wenn man dieser gegenseitigen Bedingtheit der Ideal– und Realfaktoren aller menschlichen Entwicklung sich bewußt ist, bleibt man vor dem immer wieder begangenen Fehler be– wahrt, an die mittelalterliche Kirche Anforderungen zu stellen, die nicht nur an sich außerhalb ihres nächsten Aufgabenkreises lagen, sondern die sie in ihrer jeweiligen Zeit- und Wirklichkeits– gebundenheit auch gar nicht erfüllen konnte. Jahrhunderte hindurch war die Kirche auch gegenüber unbestreitbaren Ungerechtigkeiten und Härten der bestehenden Herrschafts- und Dienstverhältnisse und der vielfach rohen Ausnutzung physischer Übermacht darauf beschränkt, die Herren zur Gerechtigkeit und Mäßigung, die Untergebenen zur Geduld und Ergebung in die Ungleichheit der irdischen Lebensschicksale zu ermahnen. Unmenschlichkeiten in der Handhabung der Herrengewalt konnte sie als unchristlich bekämpfen und hat es jederzeit furchtlos getan. Aber die Berechtigung dieser Herr– schaftsordnung stand ihr, wie allen Zeitgenossen, außer Frage, und eine Beseitigung ihrer Auswüchse konnte sie nicht erzwingen, sondern nur durch geduldige Et ziehungsarbeit an den vom christlichen Geiste noch auf lange hinaus nur sehr oberflächlich berührten Herrenständen langsam herbeizuführen versuchen. Man darf das ebensowenig Schwächlichkeit und einseitige Partei– nahme für die Mächtigen und Besitzenden nennen, wie es Grau– samkeit war, wenn die Sittenpredigt bisweilen die Leiden des schwergeprüften niederen Volkes als verdiente Strafe für seine Fehler und Sünden darstellte. Denn diese dunklen Schatten waren da, auch im Leben der bäuerlichen Bevölkerung, und den höheren Ständen wird von denselben Mahnern mit wahrlich nicht geringerem Freimut gleichfalls der Spiegel vorgehalten 1 . Unverkennbar geht dagegen die Kirche und die kirchliche Volks– belehrung mit, als später die Eigengesetzlichkeit der geistigen und 1 Vgl. dazu die nächsten Abschnitte.

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