Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 51 Daraus ergeben sich geistige Verlagerungen, die Huizinga im einzelnen an drei besonders tief in der mittelalterlichen Welt– und Lebensauffassung wurzelnden Begriffen untersucht: am Standesbegriff, am Dienstbegriff und am Ehrbegriff. Weil das Mittelalter schon im 13. Jahrhundert die Unterschiede in Stand und Rang nicht mehr ausschließlich durch die brutalen Tatsachen von Macht und Besitz begründet sah, sondern sie geistig und sittlich zu rechtfertigen begann, weil es noch echte Treue von Mensch zu Mensch in Demut und Gehorsam kannte, und eine Ehre, die auf Wert und Leistung beruhte, konnte es eine Höhenlinie sozialer Kultur erreichen, die das nachfolgende Übergangszeitalter der Renaissance im allgemeinen nicht einmal mehr innezuhalten, geschweige denn zu überbieten vermochte. Gerade die von Hui– zinga nachgewiesene Abschleifung und Veräußerlichung der drei genannten Grundbegriffe wahrer Gesinnungs- und Lebensver– bundenheit ist dafür der einleuchtende Beweis. Hier brach infolgedessen auch die hoffnungsvolle Entwicklung zu einer neuen, besseren Gesellschaftsgestaltung für mehrere Jahrhunderte jählings ab, die sich im Mittelalter schon in aller Stille geistig vorbereitet hatte, während noch die überlieferte herrschaftliche Struktur scheinbar unverrückt feststand. Diesen verborgenen Ansätzen versuchen die nachfolgenden Darlegungen nachzu– gehen. 1. Wert, Würde und Freiheit der christlichen Persönlichkeit. Während die herrschaftsständische Ordnung des Mittelalters in ihren Grundlagen und Trägern im wesentlichen unerschüttert erhalten blieb, ja die Kirche selbst die äußere persönliche Un– freiheit der dienenden Stände nicht antastete, solange sie für den Bestand der sozialen Ordnung unentbehrlich schien, steigt das Bild einer besseren irdischen Welt zuerst wie eine unbestimmte Ahnung, dann allmählich in bestimmteren Umrissen auch vor den Augen des untertänigen arbeitenden Volkes auf. Im Chri– stentum mit der frohen Botschaft von der Gleichheit und Freiheit aller erlösten Gotteskinder waren seine letzten und tiefsten Voraussetzungen von jeher gegeben. Aber diese Ideen, die im Reich der Seele und des Gewissens von Anfang an rück– sichtslos ihr Recht gefordert hatten, konnten ins soziale Leben erst dann übertreten, als ihnen aus dem natürlichen Menschen und der geistigen Entwicklung der jungen nordischen Völker

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