Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters
II. Geistige, sittliche und religiöse Grundlegung der berufsständischen Idee. In sehr feinsinnigen Untersuchungen über den Begriff der Renaissance kommt der holländische Kulturhistoriker j. Hui– zinga1 zu dem zweifellos richtigen Ergebnis, daß die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit weit fließender, diffuser ver– laufe, als es manche Darstellungen der Renaissancekultur - auch die berühmte Schilderung von Jakob Burckhardt - er– kennen lassen. Nach seinen überzeugenden Darlegungen ist ein ganzer Komplex moderner Vorstellungen, der die Haltung des einzelnen dem Leben und der Gesellschaft gegenüber betrifft, dem Mittelalter zweifellos fremd gewesen. Als solche nennt er: die Aufstellung eines persönlichen Lebenswerkes als Selbstzweck; das Streben nach Erweiterung des Lebenskreises und Ausbildung der Persönlichkeit durch bewußte Entfaltung und Steigerung der individuellen Kräfte und Anlagen; das Bewußtsein einer persönlichen Verpflichtung, die gesellschaftlichen Zustände er– halten und verbessern zu helfen. ,,Alle diese Gefühle kennt der mittelalterliche Mensch entweder gar nicht oder nur im Gewande religiöser Pflicht und religiöser Moral." Sie sind unzweifelhaft eine Errungenschaft der Neuzeit. Aber es darf nicht übersehen werden, daß auch die Renaissance sie doch vorerst nur im Keime gekannt hat. Und wenn sie tatsächlich ein Erwachen der sich selbst bestimmenden Persönlichkeit bringt, wiewohl längst nicht in dem von Burckhardt gezeichneten Umfange, so fehlt diesem Persönlichkeitsgefühl dafür wiederum die soziale, alt– ruistische Komponente. Die Folge ist, daß in dieser Hinsicht diese so oft gepriesene Zeit der „Entwicklung des Individuums" gegenüber dem Mittelalter mit seinem ungemein starken und tiefen Gemeinschaftssinn eher einen Stillstand, als einen Fort– schritt und eine Erneuerung bedeutet. 1 Wege der Kulturgeschichte, München 1930, 135 ff.
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