Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

12 - die völlige Erschütterung des religiösen Glaubens an eine gott– gewollte Welt- und Menschenordnung durch die Säkularisierung aller Lebensgebiete wird auf das ständische Denken mächtig zurückwirken, sondern auch schon die Gleichgewichtsschwan– kungen zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft, die im reli– giösen Bereich selbst auftreten, werden sich fühlbar machen. Ein dritter rein ideeller Faktor, der jeweils Wesen und Wand– lungen der ständischen Idee mitbestimmt, ist dadurch kurz gekennzeichnet. 4. Alfred von Martin 1 weist in einem aufschlußreichen Beitrag zur „ Kultursoziologie des Mittelalters" auf eine vierfache Wandlung des mittelalterlichen Denkstils hin, soweit er auch das gesellschaftliche Werden beeinflußte: die Wendung vom ständischen zum individualistischen Denken, von sozialen zum ökonomischen, vom religiösen zum weltlichen und vom seins– bestimmten zum Ieistungsbestimmten. Zu ganz ähnlichen Ergeb– nissen wird die konkrete Anwendung der soeben im allgemeinen aufgezeigten drei Entwicklungstendenzen des Ständebegriffs und der Ständeordnung auf die äußerlich anscheinend so be– friedete und doch dabei innerlich so stark bewegte mittelalter– liche Sozialordnung führen. Die erste Umformung zielt auf eine neue gesellschaftlich– wirtschaftliche Unterbauung des Standes und damit zugleich auf eine neue sittliche Auffüllung des Standesbegriffes hin. Neben dem alten Geburts-, Besitz- und Herrenstand, der seine Ansprüche und Privilegien als durch Blut und Erbe überkommen und weiterer Rechtfertigung nicht bedürftig betrachtet, ringt sich eine neue Standesauffassung durch, die an die ständische Rang– stufung den neuen Maßstab gesellschaftlich wertvoller Arbeit anlegt, von den bisher gesellschaftlich Bevorrechtigten den Nach– weis entsprechender sozialer Funktionen fordert und aufstre– benden neuen Gruppen die Möglichkeit des Standwerdens auf neuer Grundlage immer deutlicher zum Bewußtsein bringt. Der Weg vom Machtstande zum Leistungsstande. Ansatzpunkt der zweiten Entwicklungskurve ist die ausgeprägt herrenständische Ordnung, wie sie die mittelalter– liche Sozial- und Wirtschaftsverfassung zum einen Teil aus der Antike, zum andern aus der eignen Vorzeit übernahm. Eine 1 Kultursoziologie des Mittelalters, in: Alfred Vierkandt, Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, 370 ff.

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