Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

10 - Unter den Füßen der Menschen bewegt und verschiebt sich unmerklich aber beständig der Boden, auf dem ihr Sein und ihre soziale Seinsordnung ste.Jlt. Schon aus diesem Grunde ist alle Stabilität ständischer Or{lnungen nur eine relative und durch jede technisch-ökonomische Erschütterung und Umwälzung bedroht. Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, die drei gewaltigen Träger des geistigen Überbaus, verschieben in unaufhörlicher Unrast ihre Grenzen. Bald rücken die gesellschaftlichen Mächte gegen den Staat vor; bald drängt sich umgekehrt der Staat in den vordem freigelassenen Raum gesellschaftlicher Betätigung hinein. Neue soziale Gruppen steigen von unten her herauf und beanspruchen für sich Licht und Lebensraum. Bald wird das gesellschaftliche Leben stärker von geistigen Kräften, bald mehr von wirtschaftlichen Antrieben bestimmt, und in der Wirtschaft selbst kämpfen Besitz und Arbeit mit wechselndem Glück um den Vorrang. Jedesma( geht dann ein merkliches Zittern und Schwanken auch durch den Ständebau hindurch, der in seiner konkreten Gestaltung eben immer eine bestimmte Zueinander– ordnung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Mächte voraussetzt. Dann werden gesellschaftliche Stände zu politischen; oder ehedem mächtige politische Stände werden umgekehrt wieder entmachtet und zu rein gesellschaftlichen Gebilden degradiert. Dann kommen soziale Gruppen hoch, für die in der alten Ordnung gar kein Platz vorhanden war, und wollen in sie aufgenommen und eingefügt werden. Wollen es auch dann, wenn sie sich auf nichts von all dem berufen können, was die alten Stände an Macht- und Rechtstiteln vorweisen, sondern nur auf ihr Dasein und ihre Leistung im völkischen und staatlichen Ganzen. Das soziale Denken und Wollen kann und wird auch jetzt noch ein ständisches bleiben, aber der Standes– begriff weitet seinen Umfang und ändert seinen Inhalt. Eine erste Entwicklungslinie ständischer Umgestaltung ist hier an– gedeutet. Gewalten des Umsturzes bestehender ständischer Ordnungen sind weiter an der Arbeit in den Menschen selbst. Wie alles Gesellschaftliche sind auch die Stände, ungeachtet ihres starken materiellen Gerüstes, im innersten Wesen „aus Menschenleibern und Menschenseelen, aus Menschenwillen und Menschenschick– salen zusammengeschmiedet, Formen aus Leben 1 ." Leben 1 Hans Frey?r, Einleitung in die Soziologie, Leipzig 1931, 7.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2