Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 95 - leistungsgemeinschaftliche Gesellschaft ist eine demokratische Ge– staltung. Sie beruht auf einem gewissen Individualismus, der keine aristokratische Festlegung der sozialen Stellung des einzelnen und seiner Rechte durch Abstammung duldet, wohl aber gewillt ist, die individuell-eigentümlichen Leistungen durch freie Zusammen– schlüsse in den Dienst des Gesellschaftsganzen zu stellen. Die in Strukturverwandtschaft zur Gesellschaftsdemokratie im all– gemeinen demokratischen Wahlrecht übertragbare Macht der poli– tischen Leitung wird leicht der Versuchung ausgesetzt sein, sich ständisch zu verfestigen. Erliegen die Inhaber der politischen Macht dieser Versuchung, dann werden, wie auch sonst, exklusives Connubium und Erblichkeit der leitenden Stellungen zu einer neuen Standbildung führen. Es wird im Lebensinteresse eines solchen neuen Herrschaftsstandes liegen, die freiheitlich-genossenschaft– lichen Kräfte der Leistungsgemeinschaften ständisch umzuformen, zu verfestigen und in Abstufungen sich unterzuordnen, wie ja jede ständische Durchgliederung der Gesellschaft ein Vorgang ist, der oben beginnt und nach unten sich fortsetzt1. Ständeordnung und leistungsgemeinschaftliche Ordnung sind feindliche Gegensätze. Gegen den Vorwurf, eine reaktionäre, anti– demokratische politische Gestaltung in einem Ständestaat anzu– streben, haben sich die Fürsprecher der „berufsständischen Ord– nung" gewehrt durch die Interpretation, nicht den staatlichen, sondern den gesellschaftlichen Bereich umformen zu wollen. Das ist eine in sich einwandfreie begriffliche Unterscheidung. Aber die Frage der politischen Ermöglichung und Sicherung einer lei– stungsgemeinschaftlichen Gesellschaft ist für diese eine Lebens– frage. Auch Schwer hat sie nicht beantwortet. Seine soziologische Analyse der mittelalterlichen Ständeidee bleibt ein bedeutsames Dokument für den realistischen Erkenntniswillen eines katholischen Theologen gegenüber aller wirklichkeitsfremden Mittelalterroman– tik. Es ist unerläßlich, mit dem gleichen realistischen Erkenntnis– willen nun auch einzugehen auf die Frage: Wie kann, nachdem infolge der Weiterbildung des christlichen Bewußtseins von der Personwürde jedes Menschen und der Allgemeinheit der Menschen– rechte die Heiligkeit des Geblütsrechtes nicht mehr glaubhaft, daher die alte Ständeordnung zerfallen und nicht wiederherstellbar ist, und nachdem das Prinzip einer klassenmäßig aufgespaltenen 1 Vgl. Freyer, a. a. 0. 268.

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