Österreichische Zeitung für Kunst und Denkmalpflege

115. Wien I, Dr. Karl Lueger-Ring; Ausschnitt aus der Gebälkzone eines Eckpavillons der Universität (BDA, V. Knuff) den angrenzenden Teilen des Ringes aus in Übereck-Ansicht, ja von dieser Blickrichtung aus werden ihre weitläufigen und im Sinne eines Pavillonsystems entwickelten Fronten, die man zufolge geringer Distanzierungsmöglichkeit von vorne gar nicht in ihrer Gesamtheit sehen und aufnehmen kann, bevor zugt. Trotz des Rastersystems im Grundriß zeigt sich hier ein tiefgreifender Wandel in der Auffassung der städtebaulichen Konzeption, die nun zur Auflösung der rechtwinkeligen Bebauung tendiert. Freilich konnte sich dieser Wandel zufolge der als bindend erachteten Grundplanung nicht voll durchsetzen, aber es ist wohl mehr als Zufall, daß man nun die bisher offensichtlich wenig geschätzten, uimegelmäßigen Flächen zwischen den rechteckig parzellierten Sektoren der Ringstraße einer Bebauung zuführte. Die Placierung des Justizpalastes, der sich nach der an der Rückfront vorbeiführenden Lastenstraße orien tiert und damit gegen den Ring eine eigentümliche Schräglage einnimmt, ist ebenso typisch wie die Übereckstellung beim Deutschen Volkstheater. Daß man es hier nicht einfach mit Notlösungen zu tun hat, weil dieser Spätphase der Ringstraßenzeit nur mehr Lücken zu schließen geblieben wären, geht daraus hervor, daß die als malerisch empfundene Übereckstellung, die auf einen bestimmten Blick winkel hin komponierte städtebauliche Anlage den Leitgedanken des epochemachenden Werkes ,,Der Städtebau" von Camillo Sitte, 1889, bildet, der seine Ideen etwa am Beispiel der ümgebung der Votivkirche darlegt^®. Die neue Auffassung beschränkte sich nicht allein auf die Monumentalbauten, deren reich aufgegliederte Baukörper einer bildwirksamen Schrägansicht Vorschub leisteten, sondern sie begegnet auch an den Fronten der stärker in das Rastersystem der Stadtplanung eingebundenen Wohnhäuser. In der Frühzeit der Ringstraße haben sich deren Fassaden zu großen, feinlinig gegliederten Flächen aneinandergefügt und in der vorgeschriebenen Bauhöhe mit einem kräftigen Gesims abgeschlossen worden. Turmaufsätze, Kuppeln oder Risalite beschränkten sich auf die Monumentalbauten. Von diesem Straßenbild unter scheidet sich etwa jenes des Schottenrings (Abb. 119) durch die Überhöhung fast aller Ecken der Häuser blocks mit Türmen und Kuppeln, welche in ihrer ursprünglichen Erscheinung — das heißt vor der immer stärker um sich greifenden Purifizierung der Fassaden - dem Straßenbild eine sehr aufgelockerte, gelöste Silhouette verliehen haben. Diese durch dekorative und oft sehr voluminöse Eckbekrönungen Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 6. Aufl., Wien 1965, 8. 154ff.

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