Österreichische Zeitung für Kunst und Denkmalpflege

Franz Unterkirchee FRAGMENT EINES EVANGELIARS AUS DER HOESCHULE KARLS DES GROSSEN Eine der jüngsten Neuerwerbungen der Österreichischen Nationalbihliothek (Herbst 1962) ist ein Pergamentblatt 282 x 200 mm (Cod. Vind. Ser. n. 3201). Es ist am linken Rand unregelmäßig beschnitten; oben ist ein Teil der Initialdekoration weggeschnitten, unten ist noch ein kleiner Teil des entsprechenden Gegenblattes erhalten. Vom oberen Rand ist das Ende weggeschnitten, so daß die Dekoration der Vorder seite unvollständig und die erste Zeile des Textes auf der Rückseite angeschnitten ist. Auf der Vordei'seite (Abb. 236) stehen die ersten zwei Verse des Markus-Evangeliums. Das Wort initium ist - bis auf den letzten Buchstaben - in prächtigen ornamentalen und teilweise auch figuralen Buch staben geschrieben. Das zweite Wort, bvangelii, zeigt die beiden E in unzialer Form, die übrigen Buch staben in Capitalis. Die folgenden Zeilen sind in sehr schöner Unziale auf gelh gefärbtem Grund geschrieben. Der Text der zweiten Seite (Abb. 237) ist zur Gänze in insularer Schrift geschrieben. Er enthält die Verse 3-15 und den Anfang des Verses 16 des ersten Markus-Kapitels. Am unteren Rande dieser Seite steht die Lagenbezeichnung ,,U" (= die römische Zahl V). Da die gebräuchliche Lagenstärke acht Blätter be trägt, handelt es sich also um Blatt 40, das Ende der fünften Lage des Gesamtkodex. Vom Evangeliar, dem dieses Blatt angehört, sind bisher im ganzen zwölf Blätter bekannt, teils voll ständig, teils nur in Streifen erhalten. Die Blätter verteilen sich auf die Bayerische Staatsbibliothek in Mün chen, Olm 29.159, die Landeshibliothek Stuttgart, Cod. Eragm. 64 und Inkun. 9600, die Universitäts bibliothek Würzburg, Eragm. S. N. (aus der Inkunabel I. T. F. 952) und die W. M. S. Glazier Collection New York, G. 26. Eine Schriftprobe davon findet sich unter Nr. 1339 in CLA^. Lowe lokalisiert die Schrift in das Main-Gebiet (Mainz?) und datiert sie Ende des 8., Anfang des 9. Jahrhunderts. Die Stuttgarter Inkunabel, in der Fragmente des Evangeliars gefunden wurden, stammt aus der Klosterbibliothek von St. Stephan in Würzburg. Dort muß sich also am Ausgang des Mittelalters die Handschrift, zumindest fragmentweise, befunden haben. Keines der bisher bekannten Blätter besitzt Zierbuchstaben, da auch keines den Beginn eines Evange liums enthält. Nur die Majuskeln der Versanfänge sind mit blauen, gelben und roten Farben verziert. Das Auftauchen des vorliegenden prächtigen Zierhlattes reiht das Evangeliar in eine Handschriften gruppe ein, an die auf Grund der bisher bekannten Fragmente niemand gedacht hätte. Die einzelnen Elemente der Dekoration, das Gesamtbild des Stiles, die farbige Zusammenstellung lassen keinen Zweifel darüber, daß es sich um ein Werk aus der Hofschule Karls des Großen handelt. Die Werke dieser Schule sind zuletzt in erschöpfender und abschließender Form von W. Köhler im zweiten Band seines Werkes ,,Die karolingischen Miniaturen" behandelt worden^. Es sind nicht mehr als acht vollständige Handschriften: sieben Evangeliare und ein Psalter, dazu ein sehr kleines Fragment aus einem weiteren Evangeliar, dessen einzige erhaltene Textzeile ebenso in karolingischer Minuskel ge schrieben ist wie alle anderen Handschriften der Gruppe. Auf dem vorliegenden Wiener Blatt smd von den sieben Buchstaben des Wortes initium fünf in kunstvollen Ornamenten ausgeführt. Das I nimmt die ganze Seitenhöhe ein. Der mit einer Goldleiste gerahmte Schaft ist zum größten Teil mit einem perspektivischen Mäandermuster gefüllt, dessen Bänder blau, rot, grün und gelb sind. Die Ober kanten sind durch weiße Striche betont, der blaue Grund ist mit weißen Punkten in Dreieck-Anordnung gesprenkelt. Unten verjüngt sich der Schaft und ist mit blauen Blattrosetten gefüllt; die Goldleiste wird zu einem symmetrischen Flechtwerkmuster aus mehrfarbigen Bändern auf Goldgrund weitergeführt. Den oberen Abschluß des Schaftes bildet ein reich ausgesponnenes Muster von roten, blauen und grünen Bändern auf Goldgrund. In seiner komplizierten Ausführung erinnert es an die Darstellungen von Labyrinthen. In die Mitte des Schaftes ist ein Rundmedaillon mit Goldrand eingefügt. Es enthält die Büste eines Mannes mit grünem Obergewand, lockigen blonden Haaren und gefurchter Stirn. Vom gelbbraunen Hintergrund ^ E. A. Lowe, Codices Latini Antiquiores, IX, Oxford 1959. ^ W. Köhler, Die Hofschulc Karls des Großen. Textband und Tafelband, Berlin 1958.

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