Antje Kosegarten DIE CHORSTATUEN DER KIRCHE MARIA AM GESTADE IN WIEN Als bedeutendste Zeugnisse der ursprünglichen plastischen Innenausstattung der Maria-Stiegen-Kirche sind vier Baldachinstatuen einer Verkündigungsgruppe und zwei Könige aus einer Anbetung des Kindes erhalten. Es sind die einzigen monumentalen Bildwerke, welche die Plünderung der bis 1805 dem Stift Passau zugehörigen, alsdann säkularisierten und 1809 den siegreichen Franzosen als Magazin und Pferdestall überlassenen Kirche überdauertenBis vor kurzem standen sie in unzusammenhängender Aufstellung, zum Teil kaum sichtbar, an den nördlichen Pfeilern der ersten beiden Langhausjoche^, nach ihrer Restaurierung in den Werkstätten des Bundesdenkmalamtes im Sommer 1961 verteilte man je zwei Figuren auf die dem Eintretenden entgegengewandten Seiten der Westpfeiler des ersten, an den Chor anschließenden Langhausjoches. Maria (an der Südseite) und der Engel stehen an den Schiffsseiten der Pfeiler einander gegenüber, die Könige flankieren sie. Es ist dankenswert, daß man den Statuen jetzt einen angemessenen Platz in gutem Licht und damit eine deutliche Funktion im Kirchen raum gegeben hat. In ein stilles, von Süden kommendes Streiflicht getaucht, betonen sie als Seiten figuren des Choreingangs in fast bühnenmäßiger Weise den für Maria am Gestade charakteristischen Kontrast des schmalen dunklen Langhauses zu der Helligkeit des leicht aus der Achse verschobenen, weiträumigen Chors. Die Verkündigungsfiguren zeichnen sich durch die Geschlossenheit ihrer plastischen Erscheinung und besonderen Liebreiz vor der Gruppe der Könige aus (Abb. 1-4). Die Marienfigur kommt der Vor nehmheit französischer Madonnenbilder nahe. Finder fühlte sich an Marien des 13. Jahrhunderts erinnert. In sorgfältig ausgewogener Verteilung der plastischen Elemente spitzt sich der Aufbau der schmalen, gebogenen Gestalt auf das leicht nach rechts vorgestreckte Köpfchen zu, dessen Lauschen die Geste der erhobenen Rechten unterstreicht, während die ein offenes Buch haltende Linke abwärts gerichtet ist. Alle Teile sind innerhalb eines von den Gelenken her faßbaren Systems feiner räumlicher Spannungen aufeinander bezogen; der Umriß schließt sich in langen, elastischen Schrägen. Man braucht sich nur der Marienfigur aus der Eligiuskapelle des Stephansdoms zu erinnern®, um inne zu werden, wie sehr die Verkündigungsmaria der Stiegen-Kirche noch in bildhauerischen Überlieferungen der ersten Jahrhunderthälfte wurzelt. Daß sie ein Spätling dieser Epoche ist, bezeugen die eigentümliche Reduktion der plastischen Substanz, die Verdünnung der Einzelformen bei höchster Verfeinerung des ,,graphischen" Elements. Der Marienfigur verleiht die Regelhaftigkeit ihrer Gewandanordnung einen Hauch ruhiger Klassizität, der Engel dagegen wirkt expressiver. In nachdrücklicher Bewegung biegt sich der lange, relativ flach gehaltene Körper zur Seite, stumpfe Wölbungen, tiefe Faltenschluchten und hängende Bündelungen kontrastieren. Das Ausspielen höchst differenzierter plastischer Werte ist hier besonders geistreich gewagt und gelöst. Gotischer Formenschliff der ersten Jahrhunderthälfte und das Bemühen um neuen plastischen Ausdruck begegnen einander in der gleichzeitigen deutschen Skulptur wohl selten in dieser Schärfe. In den Königsstatuen (Abb. 5, 6) überwiegt das Streben nach Individualisierung. Auf vereinheit lichenden Schwebestand und reich instrumentierte Gewandbildung ist hier verzichtet, statt dessen tritt das Problem einer kontrapostischen Organisation der Figur deutlich in den Vordergrund. Der Rumpf des bärtigen Königs schiebt sich über dem zurücktretenden Spielbein nach vorn, das aufgereckte Haupt blickt in die Richtung des entlasteten Beins, der Oberkörper vollzieht mit hochgezogenen Schultern und angeklemmten Armen eine steife Drehung im Gegensinn. Die eng anliegende Zeittracht mit wenigen stark schattenden Faltenmotiven unterstreicht die Bewegung. Noch intensiver wirkt der junge König; mit weit geöffnetem, strahlendem Blick Und vorgestreckten Lippen, deren Lächeln ihm die Wangen ^ Zur Baugeschichte von Maria am Gestade: R. K. Donin, Geschichte der bildenden Kunst in. Wien, II. Band, Gotik, Wien 1955, S. 29, Anm. 47, mit älterer Lit. 2 Aufstellung der Statuen bis 1961: der bärtige König an der Westseite des nördlichen Triumphbogenpfeilers, Maria und der junge König an den Schiffsseiten des Pfeilers zwischen der Clemens Hof bauer-Kapelle und der Josephskapelle, der Engel an der Westwand der Josephskapelle. ^ H. Tietze, Geschichte und Beschreibung des St. Stephansdomes in Wien, Österreichische Kunsttopographie, Bd. XXIII, 1931, S. 391, Abb. 440. 1 Denkmalpflege 1
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