Gebhard Schmidt EIN ST. POLTENER MISSALE AUS DEM FRÜHEN 15. JAHRHUNDERT Vor einiger Zeit wurde in dieser Zeitschrift^ auf eine mittelalterliche Darstellung der St. Pöltener Domkirche hingewiesen, die sich als Randillustration in einem Missalefragment der Pierpont Morgan Library in New York findet^. Die Lokalisierung dieses aus zwei Blättern bestehenden Bruchstückes nach St. Pölten wurde schon dadurch nahegelegt, daß das Offizium ,,Ypoliti martiris et sociorum eins" auf Blatt 1 textlich und durch eine Bildinitiale besonders ausgezeichnet war; die geradezu poidrätmäßige Wiedergabe der dortigen Dom- bzw. ehemaligen Stiftskirche auf Blatt 2 beseitigte den letzten Zweifel. Begreiflicherweise waren es zunächst die überraschend exakte Abbildung eines Bauwerkes in so früher Zeit® und die daraus resultierenden Schlüsse auf die Baugeschichte des St. Pöltener Domes, die wissen schaftliches Interesse erregten. Doch scheinen die beiden New Yorker Blätter auch hinsichtlich ihres übrigen Schmuckes der Beachtung wert. Blatt 1 weist zwei Bildinitialen auf, deren eine den hl. Hippolytus als Ritter mit Lanze und Schild (darauf das St. Pöltener Stiftswappen) zeigt, während in der anderen der Tod Mariae als vielfigurige Szene gegeben wird. Von beiden Initialen geht reiches Blattwerk aus, das die Textkolumnen am linken und unteren Rand begleitet (Abb. 3). Das Blatt ist in ziemlich gleichmäßigem Abstand rings um den Schriftspiegel beschnitten und mißt 420 x 286 mm; in der Mitte des oberen Randes trägt es eine alte Folien-Nummer, die mit roter Farbe geschriebene Zahl XLII. Blatt 2 mißt 439 x 283 mm, ist also um 19 mm höher als das vorige. Der Beschnitt erfolgte hier oben knapp über der Grenze des Schriftspiegels, wodurch die Foliierung wegfiel; dafür bietet der untere, etwa 95 mm breite Rand reichlich Platz für die erwähnte Darstellung der ehemaligen St. Pöltener Stiftskirche, auf die sich von links her eine Prozession zubewegt (Abb. 15)^. Diese Randszene wurde als Federzeiclmung lediglich mit Wasserfarben laviert und hat daher stärker gelitten als die ausge zeichnet erhaltenen, mit Deckfarben gemalten Bildinitialen; dennoch scheint es erlaubt, in der einen wie in den anderen Werke ein und desselben Illuminators zu sehen. In der Randzeichnung weisen die singenden Chorknaben und die würdevoll schreitenden Augustiner Chorherren mit ihrer weißen Tracht bei aller Skizzenhaftigkeit der Ausführung doch eine Fülle scharf beobachteter Details in Mimik und Gestik auf. Noch reizvoller ist die Gruppe von Bürgern, die, aus einer geschickt angedeuteten Raumtiefe heraustretend, den Zug beschließen; die selbstbewußte Haltung der zwei vordersten Figuren und das bedeutsame Gespräch, in das sie vertieft scheinen, lassen keinen Zweifel über Rang und Würde dieser beiden St. Pöltener Notabein. Am linken Rand des Blattes verläuft eine relativ kompliziert gebildete vertikale Randleiste parallel zum Schrift block. Ihren Kern bildet ein dünner Stab, der in der Mitte zu einem Kmoten verflochten ist und unten in einer aufbrechenden Knospe endigt. Knapp unterhalb des Knotens setzt ein flaches goldenes Dreieck an diesen Stab an; noch tiefer unten umschlingt ihn üppiges Blattwerk, aus dem zwei lebhaft bewegte, auf Saiteninstrumenten musizierende Halbfiguren herausragen. An seinem oberen Ende wird der Stab von einer dünneren Ranke umwachsen, die von der links oben befindlichen Initiale T ausgeht. Dieser Buchstabe birgt wieder eine Szene, die Begegnung zwischen Christus und Zachäus (Abb. 7). Während uns in den noch bestehenden ober- und niederösterreichischen Chorherrenstiften viele und bedeutende Buchmalereien aus gotischer Zeit erhalten sind®, fällt es schwerer, eine Vorstellung von den ehemaligen Beständen der alten Canonia ad S. Hippolytum zu gewinnen. Bei der 1784 verfügten Auf hebung dieses Stiftes gingen zwar einige Handschriften auf das neugegründete Bistum St. Pölten über, 1 G. Bittner in ÖZKD XT, 19.57, S. lOöff. 2 M. 884-1, 2; vgl. M. Harrsen, Centrai European Manuscripts in tho Pierpont Morgan Library (New York 1958) No. 49. Hier auf Taf. 66 eine Abbildung des ganzen Blattes M. 884—2, aus dem Bittner (a. a. O., Abb. 140) nur das Detail mit der Kirche reproduziert. ^ Bittner datiert M. 884 in die erste Hälfte, Harrsen in das dritte Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. ^ Vgl. hierzu und zum Folgenden auch die Abbildung bei Harrsen, a. a. O., Taf. 66. ® Vgl. den Ausstellungskatalog ,,Klosterneuburg — Zentrum der Gotik" (2. Aufl., 1961), S. 28ff., und ,,Die Buchmalerschule von iSt. Florian", Katalog der 52. Wechselausstellung der Österreichischen Galerie, Wien 1961. 1 Denknuilpfiege i
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