-M- ■ 'W< 'ißrtHEFT 1/2 XVI 1962 : * • - ÖSTERREIGHISCHE ZEITSCHRIFT FÜR KUNST UND DENKMALPFLEGE ÖSTERREICHISCHES B U N DE S D E N K MALAMT VERLAG ANTON SCHRÖLL &CO WIEN-MÜNCHEN
ÖSTERREICHISCHE ZEITSCHRIET EÜR KUNST UND DENKMALPELEGE (Jahrgang 1/1947—V/1951 ist als „Österreichische Zeitschrift für Denkmalpflege" erschienen) In Nachfolge der einstigen „Mitteilungen der Zentralkommission für Denkmalpflege in Wien" Herausgeber: Österreichisches Bundesdenkmalamt Redakteure: Walter Frodl und Otto Demus XVI. JAHRGANG 1962/HEFT 1/2 INHALT Gerhard Schmidt: Ein St. Pölteiier Missale aus dem frühen 15. Jahrhundert / Peter Pötschner: Die Wiederherstellung der Alterswohnung Grillparzers im Historischen Museum der Stadt Wien / G. Triff: Internationales Studienzentrum für Konservierung und Restaurierung des Kulturgutes / E. Kbauss: Bericht über die Restaurierung der großen Orgel in der Groote of St. Bavokerk in Haarlem, erbaut 1735-1738 dmch Christiaan Müller / W. Semetkowski : Universitätsdozent Dr. P. Othmar Wonisch OSB f / Buchbeisprechungen / Aktuelle Denkmalpflege: Steiermark (Grtsbildpfiege-Ehrenhausen), Tirol (Rattenberg), Wien (Die Rettung des Ursulinenklosters / Die Hausapotheke des ehemaligen Ursulinenklo,sters / Die Ausstattung des Klosters mit spätbarocker Nischenplastik), Burgenland (Ortsbildpflege im Burgenland) Die Zeitschrift erscheint jährlich in 4 Heften Es wird gebeten, Einsendungen an die Redaktion der Zeitschrift im Bundesdenkmalamt, Wien I, Hofburg, Schweizerhof, Säulenstiege, zu richten Bezugspreis: Jährlich 4 Hefte S 90.—, Einzelheft S 25.—. Anzeigenannahme durch den Verlag Printed in Austria VERLAG VON ANTON SCHROLL & CO. IN WIEN
Gebhard Schmidt EIN ST. POLTENER MISSALE AUS DEM FRÜHEN 15. JAHRHUNDERT Vor einiger Zeit wurde in dieser Zeitschrift^ auf eine mittelalterliche Darstellung der St. Pöltener Domkirche hingewiesen, die sich als Randillustration in einem Missalefragment der Pierpont Morgan Library in New York findet^. Die Lokalisierung dieses aus zwei Blättern bestehenden Bruchstückes nach St. Pölten wurde schon dadurch nahegelegt, daß das Offizium ,,Ypoliti martiris et sociorum eins" auf Blatt 1 textlich und durch eine Bildinitiale besonders ausgezeichnet war; die geradezu poidrätmäßige Wiedergabe der dortigen Dom- bzw. ehemaligen Stiftskirche auf Blatt 2 beseitigte den letzten Zweifel. Begreiflicherweise waren es zunächst die überraschend exakte Abbildung eines Bauwerkes in so früher Zeit® und die daraus resultierenden Schlüsse auf die Baugeschichte des St. Pöltener Domes, die wissen schaftliches Interesse erregten. Doch scheinen die beiden New Yorker Blätter auch hinsichtlich ihres übrigen Schmuckes der Beachtung wert. Blatt 1 weist zwei Bildinitialen auf, deren eine den hl. Hippolytus als Ritter mit Lanze und Schild (darauf das St. Pöltener Stiftswappen) zeigt, während in der anderen der Tod Mariae als vielfigurige Szene gegeben wird. Von beiden Initialen geht reiches Blattwerk aus, das die Textkolumnen am linken und unteren Rand begleitet (Abb. 3). Das Blatt ist in ziemlich gleichmäßigem Abstand rings um den Schriftspiegel beschnitten und mißt 420 x 286 mm; in der Mitte des oberen Randes trägt es eine alte Folien-Nummer, die mit roter Farbe geschriebene Zahl XLII. Blatt 2 mißt 439 x 283 mm, ist also um 19 mm höher als das vorige. Der Beschnitt erfolgte hier oben knapp über der Grenze des Schriftspiegels, wodurch die Foliierung wegfiel; dafür bietet der untere, etwa 95 mm breite Rand reichlich Platz für die erwähnte Darstellung der ehemaligen St. Pöltener Stiftskirche, auf die sich von links her eine Prozession zubewegt (Abb. 15)^. Diese Randszene wurde als Federzeiclmung lediglich mit Wasserfarben laviert und hat daher stärker gelitten als die ausge zeichnet erhaltenen, mit Deckfarben gemalten Bildinitialen; dennoch scheint es erlaubt, in der einen wie in den anderen Werke ein und desselben Illuminators zu sehen. In der Randzeichnung weisen die singenden Chorknaben und die würdevoll schreitenden Augustiner Chorherren mit ihrer weißen Tracht bei aller Skizzenhaftigkeit der Ausführung doch eine Fülle scharf beobachteter Details in Mimik und Gestik auf. Noch reizvoller ist die Gruppe von Bürgern, die, aus einer geschickt angedeuteten Raumtiefe heraustretend, den Zug beschließen; die selbstbewußte Haltung der zwei vordersten Figuren und das bedeutsame Gespräch, in das sie vertieft scheinen, lassen keinen Zweifel über Rang und Würde dieser beiden St. Pöltener Notabein. Am linken Rand des Blattes verläuft eine relativ kompliziert gebildete vertikale Randleiste parallel zum Schrift block. Ihren Kern bildet ein dünner Stab, der in der Mitte zu einem Kmoten verflochten ist und unten in einer aufbrechenden Knospe endigt. Knapp unterhalb des Knotens setzt ein flaches goldenes Dreieck an diesen Stab an; noch tiefer unten umschlingt ihn üppiges Blattwerk, aus dem zwei lebhaft bewegte, auf Saiteninstrumenten musizierende Halbfiguren herausragen. An seinem oberen Ende wird der Stab von einer dünneren Ranke umwachsen, die von der links oben befindlichen Initiale T ausgeht. Dieser Buchstabe birgt wieder eine Szene, die Begegnung zwischen Christus und Zachäus (Abb. 7). Während uns in den noch bestehenden ober- und niederösterreichischen Chorherrenstiften viele und bedeutende Buchmalereien aus gotischer Zeit erhalten sind®, fällt es schwerer, eine Vorstellung von den ehemaligen Beständen der alten Canonia ad S. Hippolytum zu gewinnen. Bei der 1784 verfügten Auf hebung dieses Stiftes gingen zwar einige Handschriften auf das neugegründete Bistum St. Pölten über, 1 G. Bittner in ÖZKD XT, 19.57, S. lOöff. 2 M. 884-1, 2; vgl. M. Harrsen, Centrai European Manuscripts in tho Pierpont Morgan Library (New York 1958) No. 49. Hier auf Taf. 66 eine Abbildung des ganzen Blattes M. 884—2, aus dem Bittner (a. a. O., Abb. 140) nur das Detail mit der Kirche reproduziert. ^ Bittner datiert M. 884 in die erste Hälfte, Harrsen in das dritte Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. ^ Vgl. hierzu und zum Folgenden auch die Abbildung bei Harrsen, a. a. O., Taf. 66. ® Vgl. den Ausstellungskatalog ,,Klosterneuburg — Zentrum der Gotik" (2. Aufl., 1961), S. 28ff., und ,,Die Buchmalerschule von iSt. Florian", Katalog der 52. Wechselausstellung der Österreichischen Galerie, Wien 1961. 1 Denknuilpfiege i
Mk 1. St. Pöltonor Missale; Initiale D mit Verkündigung. Blattfragment im Kunsthandel (zuletzt L'Art Anoien S.A., Zürich) (L'Art Ancien S.A., Züi'ich) 2. St. Pöltener Missale; Rückseite des Te-igiturFragments. Dürnberg, German. Nat.-Mus., Mm 39 (German. Nationalmuseum, Nürnberg) doch läßt ihre geringe Zahl auf größere Verluste schließen®. Ist das Bekanntwerden der zwei New Yorker Einzelblätter schon aus diesem Grunde zu begrüßen, so erhöht sich ihr Zeugniswert für die gotische Buchmalerei St. Pöltens noch erheblich dadurch, daß ihnen einige weitere, bisher nicht lokali sierbare, aber sehr ansehnliche Bruchstücke zugeordnet werden kömien. So tauchte kürzlich im Kunsthandel ein stark beschnittenes Einzelblatt auf, das eine Bildinitiale D mit der Verkündigung an Maria trägV (Abb. 1). Buchstabenkörper und Figurenstil stimmen mit der gut vergleichbaren Marientod-Initiale auf M. 884-1 (Abb. 3) weitgehend überein; da auch die Schrift vom gleichen Schreiber stammt, dürfte es erlaubt sein, in diesem Blatt einen weiteren Teil des St. Pöltener Missalefragments der Morgan Library zu erblicken®. Noch bedeutsamer scheint es, daß sich drei schlecht erhaltene, künstlerisch aber besonders eindrucks volle Fragmente in der Graphik-Sammlung des Germanischen National-Museums in Nürnberg als Überreste des Kanonteiles dieser ursprünglich offenbar sehr reich ausgestatteten Handschrift identi fizieren lassen®. Es handelt sich im einzelnen um die Fragmente Mm 39 (Te-igitur-Initiale mit Geißelung ® Für einen St. Pöltener Auftraggeber bestimmt war die Bibel des Custos Dietrich von 1341 (Wien, Nationalbibl., cod. 1203); an Ort und Stelle verwahrt die Alumnatsbibliothek noch einige Missalien, von denen M 327 (Anfang 13. Jh.), M 325 (Anfang 14. Jh.) und M 328 (um 1430) bedeutenderen Schmuck aufweisen. Bemerkenswert sind schließlich ein um 1480 illuminiertes Antiphonar der Alumnatsbibliothek und ein St. Pöltener Missale des mittleren 14. Jahrhunderts, das seit 1945 aus dem Diözesanmuseum verschwunden ist. Vgl. zu allen diesen Handschriften den Ausstellungskatalog ,,Dle Gotik in Niederösterreich'S Krems/ Stein 1959, Nr. 81, 96, 108, III, 124 und 130. ' Nr. 11 im Katalog 47 (Miniaturen) der L'Art Ancien S. A., Zürich. Gesamtgröße des Fi-agments: 266 x 122 mm, Maße der Initiale: 62 x 62 mm. Das Blatt wurde inzwischen von H. P. Kraus, New York, erworben. Herrn Direktor A. Frauendorfer, Zürich, darf ich für bereitwilligst erteilte Auskünfte sowie für die Überlassung des Klischees zu unserer Abb. 1 auch an dieser Stelle herzlich danken. ® Beide New Yorker Blätter gehörten zum Gesangsteil (Graduale) des fraglichen Meßbuches, doch folgten sie gewiß nicht un mittelbar aufeinander. Blatt 1 mit den Singtexten zu mehreren Heiligenfesten des Monats August muß etwa aus der Mitte, Blatt 2 mit dem Commune zu Kirchweih und den Marienfesten aus dem Ende des Gesangsteiles stammen. (Dieser geht bei den meisten österreichischen Missalien des 14. und frühen 15. Jahrhunderts den Präfationen und dem Kanon geschlossen voraus, während Orationen und Lektionen erst nach dem Kanon folgen.) Das Züricher Fragment enthält die Oratio zu Mariae Ver kündigung (25. März), die mit den Worten ,,Deus qui de beatae Mariae virginis utero..." beginnt. Dieses Blatt stand also ursprünglich wohl erst nach dem Kanon. ® E. W. Bredt, Katalog der mittelalterlichen Miniaturen des Germanischen Nationalmuseums (Nürnberg 1903), Nr. 76, S. 62ff.
r * "^l ih:T»iM!!U(üri(!f^ IiIIIK 3. St. Pöltener Miasale: Initiale I mit hl. Hippolytus und Initiale U mit Marientod. New York, Morgan Library, Einzelblatt M. 884-1 (Pierpont Morgan Library, New York) Christi, Abb. 10), Mm 40 (Kanonbild, Abb. 6) und Mm 41 (kleine Knizifixus-Darstellung, wie sie im Kanonteil spätgotischer Missalien am unteren Seibenrand häufig begegneti"). Schon Bredt hat die Zu sammengehörigkeit der drei Stücke erkannt und ihren künstlerischen Wert gewürdigt; auch die von ihm vorgeschlagene Datierung ,,um 1400" trifft im wesentlichen zu, und nur sein etwas vager Lokalisierungsvorsclilagii muß mit Rücksicht auf die sicher aus St. Pölten stammenden New Yorker Einzel blätter revidiert werden. Auf den ersten Blick scheint es freilich gar nicht besonders naheliegend, die New Yorker und die Nürn berger Fragmente miteinander in Beziehung zu setzen. Der schlechte Erhaltungszustand und das viel größere Format der Nürnberger Miniaturen erschweren den Stilvergleich mit den Initialen von M. 884, mid erst eine genauere Untersuchung der Originale im Germanischen Nationalmuseum erbringt schlüssige Beweise. So stimmt der Ritterheilige der New Yorker Hippolytus-Initiale (Abb. 3) mit den Abgebildet bei Bredt, a.a. O., Taf. XI/1. Bemerkenswerterwoise wurde dieser kleine Gekreuzigte vollkommen nackt dargestellt; hingegen dürfte der Christus des Kanonbildes (ähnlich dem der Geißelung) einen eng anliegenden, aus einem durchsichtigen Schleier bestehenden Lendensohurz getragen haben, der heute nur deshalb kaum noch auszunehmen ist, weil die Oberfläche des Blattes gerade in seinem mittleren Teil stark gelitten hat. Bredt, a.a.O., S.64: ,,Oberitalien-Tirol. Vermutlich jedoch in Prag gemalt."
».tncröfluci-S Ictn fi-mdjryit 3 tiw 5. Psalmenkommeiitar des Nikolaus von Lyra: Randloistenmedaillon mit Pro phetenfigur. Wiener Hofwerkstat t (LyraMeister), Anfang 15. Jh. Wien, Nationalbibh, cod. 27S3, fol. Ir (Kunsthistor.Inst. der Universität Wien, Johanna Fiegl) U I iJ i ^Jjth iPSiil 1 f 4. Missale des Sbinko von Hasenburg: Kanonbild. Böhmisch, 1409. Wien, Nationalbibl., cod. 1844, fol. 149v (Kunsthistor. Inst. d. Univ. Wien, Johanna Fiegl) Soldaten der Nürnberger Kreuzigung (Abb. 6) in allen Kostümdetails überein. Eisenhauben (fallweise mit Visier), Halsschutz, Arm- und Beinschienen haben nahezu identische Formen und sind hier wie dort in der gleichen ungewöhnlichen Technik (Silberauflagen, darin schwarze Binnenzeichnung) wieder gegeben. Alle Soldaten weisen ferner einen verwandten Kopftypus auf: Eisenhaube und Kettenpanzer verbergen Kinn und Stirne, so daß nur der Mund, die tiefliegenden Augen und die lange, kräftige Nase sichtbar werden. Die Apostelköpfe der Marientod-Initiale wieder (Abb. 3) lassen sich gut mit denen der beiden Juden am linken Rand des Kreuzigungsbildes oder mit dem des knieenden Stifters vergleichen. Charakteristische Eigenarten der Maltechnik wie die ungewöhnlich starken Außenkonturen der einzelnen Gestalten oder die zarten, mit weißen Federstrichen in Haupt- und Barthaar eingetragenen Lichter finden sich — bis in Details übereinstimmend — in Nürnberg wie in New York; letztere sind hier am besten wieder in der Marientod-Initiale, dort im Haar des Johamies und der beiden schon erwälmten Juden auszunehmen. Das besondere Interesse des Illuminators an stark verkürzten oder von rückwärts
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gesehenen Figuren demonstrieren der linke Apostel des Marientodes und Zachäus (Abb. 3, 7) ebenso wie die Schergen der Geißelung oder der Stifter im Kanonbild (Abb. 6, 10). Uneinbeitlicber wirkt der Faltenstil: Die Hauptfiguren der Kreuzigung tragen straff um den Körper gezogene Gewänder, deren Säume teils in flach gespannten Kurven schwingen und nur leicht auf dem Boden aufschleifen, teils - wenn sie von Armen oder Händen gerafft werden - in weichem Geriesel herabgleiten. Eine vergleichbare Gewandbehandinng zeigt nur noch der Christus der Zachäus-Initiale, während sich in der Verkündigung oder im Marientod die Stoffe knitterig zu stauen scheinen. Freilich sind auch in dem Nürnberger Kanon blatt derart kleinteilige und komplizierte Bildungen nachweisbar: im Chorrock des Stifters etwa oder in den Gewändern der tierköpfigen Evangelisten in den Medaillons der Rahmenecken, wo übrigens auch die aus zarten goldenen Strahlen bestehenden Heiligenscheine begegnen, die für die Initialfiguren so kennzeichnend sind. Nimmt man noch hinzu, daß weder die New Yorker Initialbilder, noch die Nürnberger Miniaturen auf Goldgrund gemalt sind, sondern allesamt auf farbigen (und zwar meist purpurroten oder blauen) Hintergründen stehen, und weiters daß die Rankenformen im Rahmen des Kanonbildes mit den Rankenformen der New Yorker Initialen und Randleisten völlig übereinstimmen, bedarf es kaum noch äußerer Beweise für die Zusammengehörigkeit der insgesamt sechs in Rede stehenden Fragmente. Doch können auch solche Argumente beigebracht werden. Zu ihnen zählen zunächst die Formate der drei Nürnberger Stücke: Der kleine Marginal-Kruzifixus, an dessen oberem Rand noch die unterste Rahmenlinie des Schriftspiegels und die Schlinge eines g auszunehmen sind, mißt reichliche 90 x 90 mm; der hier verfügbare untere Randstreifen der Seite entsprach also etwa dem von M. 884-2, der 95 mm hoch ist. Das Blatt mit der Kreuzigung mißt 415 x 285 mm, was mit den beiden New Yorker Fragmenten (420 X 286 bzw. 439 X 283 mm) wieder gut zusammenstimmt. Schließlich ist auf der Rückseite des Nürnberger Kanonblattes mit roten Strichen ein leerer Schriftspiegel eingetragen; seine Maße (innerhalb der rahmenden Doppellinie) betragen zwar nur 318 x 210 mm gegenüber 340 x 212 mm auf den New Yorker Blättern, doch ist der Abstand der beiden Rahmenlinien voneinander auf allen Fragmenten (außer Mm 41, wo eine Kontrolle nicht mehr möglich ist) mit 5 bis 5,5 mm gleich. Daß die Größe des Schriftspiegels im Kanon des Missales gegenüber den anderen Teilen geringfügig variiert, läßt sich unschwer dadurch erklären, daß hier eine etwas größere Schrift in durchlaufenden Zeilen verwendet wurde, während man die übrigen Texte mit kleineren Lettern in zwei Kolumnen schrieb. Tatsächlich beträgt die Zeilenhöhe in den Fragmenten von New York und Zürich 13 mm, auf der Rückseite der Nürnberger Te-igitur-Initialeaber 15-16 mm; die monumentalere Schrift des Kanons wurde also durch einen etwas niedrigeren Schriftspiegel in ihrer Wirkung noch unterstrichen. Gewichtiger scheint dem gegenüber die Beobachtung, daß der Schriftspiegel auf allen unseren Fragmenten durch rote, bis an den Seitenrand durchgezogene Doppellinien begrenzt wurde: Ist schon die konsequente Verwendung roter Farbe für die Linierung recht selten, so sind es doppelte Rahmenlinien noch viel mehr. Wo sie ausnahmsweise doch auftreten, beschränken sie sich entweder auf die waagrechten oder, noch seltener, auf die senkrechten Begrenzungen - eine ungefähr zeitgenössische Handschrift aber, die sie in einer unseren St. Pöltener Fragmenten völlig entsprechenden Form zeigen würde, ist mir überhaupt nicht bekannt geworden. Den letzten Beweis liefert schließlich noch die auf der Rückseite des Nürnberger Fragments Mm 39 erhaltene rote Schrifti^. gjg stammt von der gleichen Hand, die auch die Einzelblätter von New York und Zürich schrieb, wovon ein Vergleich unserer Abb. 2 mit Abb. 1 und 3 ohne weiteres überzeugt^®. Die Zusammengehörigkeit dieser Einzelhlätter mit den Nürnberger Miniaturen kann angesichts so vieler Übereinstimmungen kaum bezweifelt werden. Daß der auf dem Kanonbild dar gestellte Stifter die Tracht eines Propstes der Augustiner Chorherren trägt (weißer Chorrock, maulNach freundlicher Auskunft von Hofrat DDr. Franz Unterkircher handelt es sich bei diesem Textfragment nicht um einen normalen Bestandteil der Meßgebete; eher dürfte hier eine jener privaten Fürbitte-Formeln vorliegen, wie sie in spätmittel alterlichen Missalien, die persönlicher Besitz eines Geistlichen waren, nicht selten sind. " Die etwas abweichende Form der Kürzungsstriehe sowie die strengere Vertikalität und geringfügig stärkere Brechung der einzelnen Buchstaben in Nürnberg ergeben sich wohl wieder aus der größeren Sorgfalt, die der Schreiber auf den Kanontext wandte; dennoch stimmen alle charakteristischen Details (Eiuzellettern, Buchstabenverbindungen, Haarstriche) so vollkommen mit New York überein, daß beide Schriften nicht nur dem gleichen Skriptorium, sondern mit Sicherheit auch der gleichen Hand gegeben werden müssen.
t'f » HäroÄani^lre Links: 7. St. Pöltener Missale: Initiale T mit Christus und Zachäus. New York, Morgan Library, Einzelblatt M. 884-2 (Pierpont Morgan Library, New York) - Rechts: 8. Psalmenkommentar des Nikolaus von Lyra: Initiale P mit Evangelist Lukas. Wiener Hofwerkstatt (Lyra-Meister), Anfang 15. Jh. Wien, Nationalbibl., cod. 2783, fol. Ir (Kunsthistor. Inst, d. Univ. Wien, J. Fiegl) wurfsgrauer Pelzkragen, purpurnes Barett), schließt die Indizienkette vollends: Es war offenbar der Vorstand der St. Pöltener Stiftsgemeinde, der dieses prachtvolle Meßbuch für sich anfertigen ließ^^. Zu allerletzt darf noch erwähnt werden, daß die drei besprochenen Kanon-Miniaturen keineswegs die einzigen Fragmente unserer Handschrift sind, die das Germanische National-Museum besitzt. Drei weitere kleine Bruchstücke mit den Signaturen Mm 69, 74 und 76 kl. F. erweisen sich bei näherem Zu sehen als ebenfalls zugehörig. Fs handelt sich hier um sehr knapp beschnittene Bildinitialen^®, in denen die Darbringung Christi, der hl. Augustinus und der Schmerzensmaim dargestellt sind (Abb. 12-14). Wie die Initialen auf den Finzelblättern in New York und Zürich sind sie durchschnittlich 60 x 60 mm groß und stehen auf annähernd quadratischen, nicht konturierteti Goldgründen. Die Buchstabenformen, der Figurenstil und die eidialtenen Reste des Blattwerks bestätigen ihre Herkunft aus dem hier behandelten Missale; vollends bewiesen wird diese durch die auf den Rückseiten der drei Initialen erhaltene Schrift, die wieder mit der auf den New Yorker Finzelblättern übereinstimmt und wie dort zwischen roten Zeilenlinien von 13 mm Abstand geschrieben ist. Über das Schicksal des hier besprochenen St. Pöltener Missales läßt sich also folgendes vermuten: Wohl anläßlich der Auflösung des Ghorherrenstiftes zu Ende des 18. Jahrhunderts seiner alten Biblio theksheimat entfremdet, scheint es einem jener frühen Sammler mittelalterlicher Miniaturen in die Hände gefallen zu sein, die - noch ohne Verständnis für die organische Einheit von Text und Schmuckilluminierte Handschriften zerlegten oder zerschnitten^®. Einige weitgehend intakt gebliebene Finzelblätter gelangten dann in den Kunsthandel, während das Kanonbild und die knapp beschnittenen Der Chorrock wird von Bredt, a. a. O., S. 62, als ,,früher violetter Talar" bezeichnet; so auch von O. Kletzl, Studien zur böhmischen Buchmalerei (Marburger Jb. f. Kunstwissenschaft VII, 1933, S. 64). In Wirklichkeit aber war dieses (heute stark abgeriebene) Kleidungsstück schon ursprünglich im wesentlichen weiß; nur die Modellierung erfolgte mit blassem Lila, das stellenweise noch jetzt gut zu sehen ist und wohl auch zur Fehldeutung Bredts und Kletzls Anlaß gab. Ein ähnlich zwischen Weiß und Lila changierendes Gewand trägt übrigens auch das Lukas-Symbol im rechten oberen Rahmenmedaillon; hier wird vollends klar, daß diese Farbtöne nicht ,,violett", sondern eben ,,weiß" bedeuten sollten. Ebenso ist Kletzls Bezeichnung des dunkelgrauen Pelzkragens als ,,schwarzer Purpurkragen" irreführend. Bredt, a. a. O-, Nr. 284-286, S. 122£f.; ferner auch Kletzl, a. a. O., S. 32. Der Zusammenhang mit den Kanon-Miniaturen wird weder von Bredt noch von Kletzl erkannt. Über die Verwendung alter Pergamenthandschriften bei der Feingolderzeugung — noch vor hundert Jahren — informieren die aufschlußreichen Angaben bei Bredt, a. a. O., S. 3.
Nürnberger Initialen entweder aus dem von Bredt geschilderten Pergamenthandel „nach Gewicht" oder aus einem der charakteristischen „scrap books" des 19. Jahrhunderts, also schon aus einer älteren privaten Fragmenten-Sammlung, an das Germanische National-Museum in Nürnberg übergegangen sein mögen. Als nächstes stellt sich uns die Frage nach dem stilgeschichtlichen Ort dieser bedeutenden Handschrift. Das Kanonbild (Abb. 6), das sich als größte und reichste Miniatur der künstln'storischen Analyse in erster Linie anbietet, scheint in ikonographischer wie stilistischer Hinsicht so ungewöhnlich, daß wirklich schlagendes Vergleichsmaterial kaum beizubringen ist. Der Hinweis auf Böhmen, der sich schon bei Bredt findet'^ und der von Kletzl noch spezifiziert wurde^®, verdient jedenfalls Beachtung. So stimmt die Nürnberger Kreuzigung mit dem Kanonbild des Hasenburg-Missales der Österreichischen Nationalbibliothek^® bezüglich der Rahmenform weitgehend überein; das böhmische Beispiel (Abb. 4) weist ebenfalls Eckmedaillons mit Evangelistendarstellungen (freilich in anderer Reihenfolge und in stark abweichender ikonographischer Fassung) auf, und auch das vom Rahmen ausgehende Rankenwerk ist zumindest in seiner Anordnung vergleichbar. Noch aufschlußreicher scheinen die vielen Einzelheiten, die unser St. Pöltener Illuminator aus der böhmischen Tafelmalerei des späten 14. Jahrhunderts, insbesonders vom Meister von Wittingau und seiner Nachfolge, übernahm. Da sind etwa die Soldaten gruppen mit ihren charakteristischen Rüstungen, mit ihren schweren Lanzen und Hellebarden und mit dem als bärtiges Männergesicht geformten Schild; bis in Details entsprechende Figuren finden sich in der Ölberg-Tafel des Wittingauers und in der Kreuzigung von St. Barbara, die aus seiner Schule stammt^". Die Maria der Nürnberger Kreuzigung scheint Motive zu kombinieren, die an den beiden linken Frauen gestalten der Wittingauer Grablegung getrennt begegnen: Hier hebt sich der Kopf der weiter hinten stehenden Figur im reinen Profil von der Goldscheibe des Nimbus ab, während die vordere hinsichtlich der Drapierung des Mantels über Kopf und rechter Hand völlig mit der Nürnberger Maria übereinstimmt^i. Ikonographische und Gewandmotive aus den New Yorker Initiahniniaturen finden Ent sprechungen in der Nachfolge des Wittingauers noch bis in das frühe 15. Jahrhundert. Diesbezüglich ist der Vergleich der Marientod-Initiale (Abb. 3) mit der Anbetung des Kindes in Frauenberg (Hlubokä) aufschlußreich; in beiden Fällen werden die weich knitternden Faltensockel der knieenden Marienfiguren identisch angeordnete^. Allerdings wird man sich hüten müssen, aus derartigen Beobachtungen den Schluß zu ziehen, unsere St. Pöltener Handschrift sei unmittelbar der böhmischen Entwicklung einzuordnen. Gewiß hat ihr Illuminator böhmische Originale oder zumindest von dorther inspirierte Vorlagen gekannt, doch muß er zugleich noch ganz andere Quellen benützt haben. Der ein wenig eklektizistische Charakter seiner Kunst wird besonders deutlich, wenn man das Nürnberger Kanonbild näher analysiert. Das Haupt motiv dieser Komposition (Abb. 6) entstammt ganz offenkundig einer normalen Drei-Figuren-Kreuzigung, wie sie um 1400 in der Buchmalerei die Regel und auch in der Tafelmalerei vorherrschend war. Dieses Schema, dem sich auch der unter dem Kreuz knieende Stifter noch zwanglos einordnet, wurde jedoch mit einer Fülle heterogener Motive gleichsam hinterlegt und so zu dem in Meßbüchern recht seltenen Typus einer ,,Kreuzigung mit Gedräng" ausgebaut. Während sonst in vielfigurigen Kompositionen dieser Art links die ohnmächtige Maria von Frauen umsorgt oder von Johaimes gestützt und die rechte Bildhälfte vor allem den Soldaten und dem römischen Hauptmann eingeräumt wird, bleiben in dem Nürnberger Blatt die beiden Assistenzfiguren eigenartig isoliert; ihre großen und einfachen Gesten kontrastieren umso eindrucksvoller mit dem dichten Gedränge der anderen Gestalten im Hintergrund^®. " Vgl. Anm. 11. Kletzl, a. a. O., S. 63f., hält die Nürnberger Fragmente für Jugendwerke jenes böhmischen Illuminators, den er als Meister A eines Missale Pragense in Zittau (Stadtbibliothek cod. A VII) bezeichnet. Soweit man nach Reproduktionen urteilen kann, ist diese Vermutung ziemlich abwegig. Cod. 1844; für den Prager Erzbischof Sbinko von Hasenburg bestimmt und 1409 datiert. Vgl. A. Matöjcek-J. Pesina, Gotische Malerei in Böhmen (Prag 1955), Taf. 91 und 114. Matßjcek-Pesina, a. a. O., Taf. 105. 22 Matöjcek-Pesina, a. a. O.. Taf. 117. Für die ikonographische Konzeption unserer Initiale vergleiche man ferner die böhmische Tafel mit dem Marientod in Nürnberg (ebenda, Taf. 171). Die aus der gleichen Werkstatt stammende Budapester Verkündigung (ebenda, Taf. 172) weist eine ähnlich lose, doch unbestreitbare Verwandtschaft mit der ent.sprechenden Initiale des Züricher Blattfragmentes (Abb. 1) auf. 23 Der Normaltyp der vielfigurigen Kreuzigung wird um 1331 mit der bekannten Rückseitentafel des Verduner Altars in die
mii&'flHli ttninun d|n(bt8tDtm ititsimtiiinttitiKlimß. ittd^tfiftdiitatmu «r wituttt aitntltr'pnut Ij^lifontiR CDimnastr mititäJtfnumttilislf m inatuKtamütomm. ntmtbdtuut-titnrCbtt _ mtttiouitfiticßadtftt ' fitunaitiaat)cf(Uiar itosoinmius>)rä-iau icntfölcm'iGtp :'vonututstltc(ii0 mqtta ttorfrimtr 1nnu>aaiptflidnr "igiimasasTttsfir mtctöt)ar:amiiitt (tittiatoiumMiof <(t0K|ju8mcimi' (tttoojiualitstmir .timlioffmittfrac , diumnmcmouuDi -A9. Historia de corpore Christi: Initiale S mit Schmerzensmann. Wiener Hofwerkstatt (Lyra-Meister), 1404/06. New York, Morgan Library, M. 853, fol. 2r (Pierpont Morgan Library, New York) Die Soldaten, der betende Longinus hinter Maria, die beiden bärtigen Juden und der Engel mit dem Kelch entstammen zumindest dem Themenkreis der Kreuzigungs-Ikonographie, auch wenn sie hier dem Bildganzen auf sehr unkonventionelle Weise eingefügt werden; viel überraschender sind die beiden knabenhaften Figuren, die eine Leiter an das Kreuz anlegen und damit schon das Thema der Abnahme und Beweinung Christi anklingen lassen. Daß er eine so extravagante und zweifellos von recht verschiedenartigen Vorbildern angeregte Kompo sition dennoch zu einer überzeugenden künstlerischen Einheit zusammenzuschmelzen vermochte, bestätigt zunächst den hohen Rang unseres Malers; ferner weist uns eben diese Leistung auf Voraus setzungen seiner Kunst hin, die im böhmisch-österreichischen Raum keineswegs selbstverständlich gegeben waren. Die durch den breiten Bodenstreifen im Vordergrund suggerierte Geräumigkeit der Bildbühne, die Tiefenwirkung des Figurenhalbkreises, der von den beiden Randgruppen so nach vorne schwingt, daß er den Fuß des Kreuzes zum Mittelpunkt zu haben scheint, die souverän beherrschten Bewegungen, Drehungen und Verkürzungen der einzelnen Gestalten und nicht zuletzt der feine Rhjdhmus der Kopfwendungen, die Aussagekraft der einander treffenden oder überkreuzenden Blicke, österreichisch-böhmische Malerei eingeführt (vgl. A. Stange, Deutsche Malerei der Gotik, Berlin 1934ff., Band I, Abb. 146). In den folgenden Jahrzehnten vielfältig abgewandelt, bleibt er im wesentlichen doch auf die Tafel- und Wandmalerei beschränkt. Aus dem engeren geographischen und zeitlichen Umkreis unserer Nürnberger Miniatur sind nur zwei Kanonbilder zu nennen, die diesen vielfigurigen Typus aufgreifen: das schon in Anm. 6 erwähnte St. Pöltener Missale cod. 15 des dortigen Diözesanmuseums (um 1350/60, vgl. Stange, a. a. O., Band I, Abb. 145) und das ebenfalls schon genannte Hasenburg-Missale von 1409 (unsere Abb. 4). In beiden Fällen wurden zweifellos ikonographische Lösungen zeitgenössischer Tafelbilder übernommen. Mit der Nürnberger Kreuzigung weisen sie keine nennenswerten Übereinstimmungen auf. 2 Denkmalpflege
aus der sich die verhaltene, jedoch ungemein intensive Stimmung des Bildes ergibt und die den Maler als einen großen Schilderer seelischer Vorgänge erweist - all dies läßt zunächst und vor allem Einflüsse aus dem Bereich der italienischen Trecento-Kunst vermuten. Freilich müssen es andere Bezirke der nachgiottesken Malerei gewesen sein als jene, aus denen die höhmische Stilentwicklung schon seit den Hohenfurther Tafehi des mittleren 14. Jahrhunderts so viele und wichtige Anregungen bezogen hatte, ohne doch jemals zu einem mit dem St. Pöltener Blatt ver gleichbaren Resultat zu gelangen. Es ist im beschränkten Rahmen unserer Studie nicht möglich, die Wurzeln dieses zweifellos ungewöhnlichen künstlerischen Phänomens bis in ihre Verästehmgen bloß zulegen ; es muß daher genügen, wenn wir die Vermutung äußern, es sei hier gar nicht ein unmittelbarer Zusammenhang mit Italien selbst bestimmend gewesen, sondern eher die Kenntnis gewisser Haupt leistungen französischer, namentlich der für Jean de Berry tätigen Illuminatoren. Das Gesamtbild etwa, das die neuere Forschung von der in hohem Maße italienisch inspirierten und doch (im nordwesteuro päischen Sinn) ,,gotischen" Kunst eines Jacquemart de Hesdin gewonnen hat, kann deutlich machen, was wir mit diesem Hinweis meinen^^. Der großzügige, in einem flachen und sehr subtil modellierten Relief gehaltene Faltenstil einiger Hauptfiguren in der Nürnberger Kreuzigung (wie auch in der dortigen Geißelung), die Freiheit der Bewegungen in schmalen, aber überzeugend angedeuteten Raumbühnen, der Mut zum reinen Profil oder zu starker Verkürzung, der spürbare seelische Kontakt zwischen den Personen und nicht zuletzt auch die gedämpften Pastelltöne des Kolorits-wie Lila, helles, oft gelbliches Grün, Rosa und Lichtblau -, das alles sind Qualitäten, die bei Jacquemart und in seinem Umkreis immer wieder begegnen und die unserem St. Pöltener Illuminator in eben dieser Kombination von dorther - glauben wir - eher vermittelt werden konnten als aus irgendeinem anderen künstlerischen Zentrum seiner Zeit^^. Die Frage, wie eine solche (und zugegebenermaßen überraschende) Beziehung begründet werden könnte, sei für den Augenblick aufgeschoben, um zimächst noch einmal auf das schon erwähnte Kanonhild des Hasenhurg-Missales zurückzukommen (Abb. 4). Wir haben weiter oben festgestellt, daß diese böhmische Miniatur von einem Rahmen umgeben wird, der dem unseres Nürnberger Blattes in wesent lichen Zügen Amrgleichbar ist; fügen wir irun noch hinzu, daß auch die Gekreuzigten heider Kanonbilder dem gleichen seltenen Typus angehören, der mit straff durchgestrecktem Körper eine kaum wahrnehm bare Drehung vollzieht, so daß Hüfte und Beine ein wenig nach rechts gewendet sind, die Brust frontal gesehen wird und das Haupt sich nach links neigt. Deimoch - und obwohl es sich in beiden Fällen um vielfigurige Kompositionen handelt, die noch dazu annähernd zeitgenössisch sein dürften - verwirklicht jedes der zwei Blätter eine jeweils grundverschiedene künstlerische Konzeption. Das in zwei bild parallelen und sehr seichten, mehr über- als hintereinander gestaffelten Raumschichten aufgebaute böhmische Kanonbild gehört voll und ganz jenem mitteleuropäischen ,,Weichen Stil" an, als dessen kostbarstes Zeugnis aus dem Bereich der Buchmalerei es rechtens gilt. Alle seine Figuren stehen unter dem Zwang der vorderen Bildfläche: ihr zuliebe breiten sie die Fülle reichgefalteter Gewänder aus, auf sie beziehen sich alle ihre Bewegungen, und auch jede Kopfwendung, jede seitlich geführte Aktion erhält ihre Signifikanz von jenem Winkel, um den sie von dieser imaginären Ebene abweicht. Wie sehr sich das St. Pöltener Kanonblatt durch sein stärker entwickeltes Raumgefühl und zugleich auch in seiner dramatischen Aussagekraft von einer solchen mehr dekorativen Lösung unterscheidet, lehrt am eindringlichsten die Gegenüberstellung der beiden Gekreuzigten. Wohl gehören sie dem gleichen Typus an, und doch wird das Sterben Christi im Hasenburg-Missale nur auf maßvoll sentimentale Weise zelebriert, wo es in dem St. Pöltener Blatt mit voller Wucht erlebt wird. Qualvoller sind hier die Finger um die Kreuznägel gekrampft, wie ein gedrehter Strick scheint der Körper gespannt, der Kopf lehnt sich nicht mit gebrochenem Blick seithin an die Schulter, sondern ist mit geschlossenen Augen und zähnehleckend verzerrtem Mund jäh nach vorne gesunken. Diese Neigung aus der Fläche heraus Vgl. O. Pacht, Un tableau de Jacquemart de Hesdin ? (La Revue des Arts VI, 1956, S. 149ff.). Hier ist der Stand der Jacqueraart-Forschung umrissen und das vermutlich definitive Bild dieses Künstlers überzeugend skizziert. Man wird hier vor allem an den Frühstil Jacquemarts denken dürfen, wie er uns etwa in den ,,Petites Heures du duc de Berry" entgegentritt (vgl. Pacht, a. a. O., Fig. 27). Analogien zu den beiden in ein besorgt-vertrauliches Gespräch vertieften Juden der Nürnberger Kreuzigung bieten sich noch überzeugender in späteren Miniaturen Jacquemarts und seiner Nachfolge (ebenda, Fig. 5, 6 und 29, 30).
10. St. Pöltener Missale: Te-igitur-Initiale mit Geißelung Christi. Nürnberg, German. Nat.-Mus., Mm 39 (Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) 11. Missale des Dompropstes Wilhelm Turs: Te-igitur-Initiale mit Geißelung Christi. Wiener Hofwerkstatt (AlbreehtsMiniator?),um 1425/30. Wien, Diözesanmuseum (Kunsthistor. Inst. d. üniv. Wien, Johanna Fiegl) schafft erst die ergreifende Beziehung zwischen dem toten Christus und der Gruppe betender Figuren (Maria, dem Stifter und Longinus), die rechts vor dem Kreuz angeordnet sind; zuletzt bezieht sie auch den Betrachter in die lautlose Inbrunst dieses Gegenübers ein. Obwohl wir uns des außerordentlichen künstlerischen Ranges des böhmischen Meisters voll bewußt sind, will uns doch scheinen, daß der österreichische Buchmaler nicht nur das ausdrucksvollere, sondern auch das weitaus modernere Werk schuft". Die Faszination, die von den Hauptfiguren seiner Komposition ausgeht, und manches geistvolle oder schön empfundene Detail machen es dem Betrachter leicht, über einige unleugbare Schwächen des Blattes (wie die zwar interessante, doch auch ein wenig störende Einführung der Leiter oder die allzu abrupte Erscheinung des Kelch-Engels) hinwegzusehen. Kennzeichnend ist etwa, wie der Hasenburg-Illuminator die Figuren seiner zweiten Raumschicht ,,schweben" läßt: .Die Beine der Pferde können unmöglich bis zu der rechts vom Kreuzesfuß, in Höhe des Zubers mit dem Essigwasser, angedeuteten Horizont linie herabreichen. Der St. Pöltener hingegen läßt zwar den Horizont nirgends sichtbar werden, doch bildet sich im Betrachter sogleich die Vorstellung, daß die Kreuzigung auf einer Anhöhe stattfindet, hinter der das Terrain wieder abfällt, also noch Raum vorhanden ist. So erhalten auch die gemusterten Bildgründe einen jeweils anderen Sinn: In dem St. Pöltener Blatt wirken die zarten Rauten völlig indifferent und können ohne weiteres als tief hinten liegende Raumbegrenzung verstanden werden, während das dichte Goldfiligran des Hasenburg-Missales eher an einen kostbaren Teppich gemahnt, der unmittelbar hinter der Szene herabgelassen wurde. Gerade die suggestive Geräumigkeit der St. Pöltener Kreuzigung wii'kt überraschend modern und reiht den Schöpfer dieses Blattes unter die Wegbereiter renaissancemäßiger Bildideen ein. Zu der Problematik des Bildraumes in der Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts vergleiche man M. Meiss, ,,Highlands" in the Lowlands (Gazette des Beaux-Arts 1961, S. 273ff.).
Ngrgi. um 12. St. Pöltener Missale: Initiale »S mit Darbringung Christi. Nürnberg, German. Nat.-Mus., Mm 69 kl. F (German. Nat.-Mus., Nürnberg) 13. St. Pöitenev Missale: Initiale A mit hl. Augustinus. Nürnberg, Germanisches National-Museum, Mm 74 kl. F (German. Nat.-Mus., Nürnberg) 14. St. Pöltener Missale: Initiale D mit Schmerzensmann. Nürnberg, Germani sches National-Museum, Mm 76 kl. F (German. Nat.-Mus., Nürnberg) Endlich muß uns noch die Stellung der besprochenen Handschrift in der österreichischen Malerei und die Frage nach ihrer vermutlichen Entstehungszeit beschäftigen. Bisher war von einigen präzise bestimmbaren Analogien zur böhmischen Kunst und von einer vermuteten Inspiration seitens der französischen die Rede. Sowohl die erwähnten Werke des Meisters von Wittingau und seiner Schule wie auch die aus dem Miniatorenkreis des Jean de Berry gehörten vorwiegend den letzten zwei Jahr zehnten des 14., zum Teil auch schon den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts an. Wie steht es nun um das österreichische Material, das einen Vergleich mit der St. Pöltener Handschrift erlaubt? Die Berührungen sind hier zwar kaum zahlreicher, wohl aber viel enger als jene, die sich mit böhmischen Werken ergaben. Das gilt in erster Linie für die Blattranken, die Randleisten und die Deckfarbeninitialen, die sämtlich den entsprechenden Lösungen der zeitgenössischen Wiener Hofminiatoren überraschend nahestehen^'. Im Rahmen dieser Schule ist es vor allem der von Holter so genannte ,,Lyra-Meister", mit dessen Zierformen sich die engsten Übereinstimmungen ergeben^^. Die dümien, mit ungewöhnlich dürftigen Schaftringen besetzten imd von den charakteristischen goldenen Dreiecken begleiteten Stäbe bilden hier ebenso das Gerüst der Randleisten wie in dem New Yorker Einzelblatt mit der Kirchweihprozession; eng verwandt sind auch die aufbrechenden Knospen an den unteren Enden dieser Stäbe, vor allem aber das großflächig mit Gold unterlegte Blattwerk, das sich in weichen Spiralen um die Stäbe herumlegt oder in reicherer Verzweigung aus ihnen hervorwächst (vgl. Harrsen, a. a. 0.,Taf. 66, sowie unsere Abb. 3 und 15 mit Abb. 5, 8, 9). Gerade die besonders üppigen Ranken der ,,Historia de corpore Christi" (Abb. 9) legen einen Vergleich mit dem strukturell sehr ähnlichen Rankenwerk nahe, das den Rahmen der Nürnberger Kreuzigung umgibt (Abb. 6). Wie die Wiener Illuminatoren setzt auch unser St. Pöltener Meister seine Initialen auf konturenlose, annähernd quadratische Goldflächen und legt die Gründe der Miniaturen farbig an. Schäfte, Bäuche und Balken über die Wiener höfi.sche Illuminatorenwerkstatt hat zusammenfassend K. Holter gehandelt. (Die Wiener Buchmalerei, in; Geschichte der bildenden Kunst in Wien, Band 2: Gotik, hsg. v. R. K. Donin, Wien 1955, S. 216ff., besonders S. 220ff.) Holter, a. a. O., S. 221 f. Namengebend für diesen Illuminator war cod. 2783 der Wiener Nationalbibliothek (Psalmenerklärung des Nikolaus von Lyra); ferner schmückte er eine ,,Historia de corpore Christi" aus, die für Herzog Wilhelm bestimmt war und daher zwischen 1404 und 1406 datiert werden kann (früher in der Liechtenstein-Bibliothek, jetzt M. 853 der Pierpont Morgan Library). Sollte Holter im Recht sein, wenn er dem Lyra-Meister auch fol. 57r des Rationale Durandi (Wien, cod. 2765) zuschreibt, wo noch der Auftraggeber dieses ersten Hauptwerkes der Wiener Hofminiatoren, der schon 1395 gestorbene Herzog Albrecht III., dargestellt ist, ließe sich die Tätigkeit des Künstlers sogar durch mehr als ein Jahrzehnt verfolgen. Neben Meister Nikolaus, der damals eben erst auftrat und dann bis gegen 1430 das Haupt der Wiener Werkstatt blieb, war der Lyra-Meister zweifellos eine der wichtigsten Individualitäten dieses Kreises zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Seine enge Verwandtschaft mit Nikolaus hat gelegentlich zu Verwechslungen geführt (vgl. etwa Harrsen, a. a. O., No. 42, S. 56f., wo die ,,Historia de corpore Christi" letzterem zugeschrieben wird); dennoch repräsentiert der Lyra-Meister eindeutig die bodenständige Wiener Tradition, die sich schon mit den älteren Miniaturen des Rationale Durandi konstituiert hatte, während der selbständigere Nikolaus eher aus dem böhmischen Milieu zu kommen scheint. (Vgl. auch K. Oettinger, Der Illuminator Nikolaus, Jb. d. Preußischen Kunstsammlungen 1933, S. 22111.)
vi j;op5!iBTO?5ra Tnnnisni:mmmiiu:-f-| «liftöfff li'tf..; ttnvii tm- öateöiiwfitddl X ;n ^äStfMrstrtßc! (LMtHÜüMßjCitöt&t '^nif m^ntQUittsnäSvJhif \j., . ^ i ftisiiü- flp!ffäke4 «ä- 'kLj.. « %mi . . . .i ■ 4'::], '.»Hlr -fr rf$i!!4-«ftit mvxwt tt ■ • . • .Et: •' /i'V 'Wt^r Mm! tr ^ "w ' 1' I sr- i I .; , ■< ^1 ' . j'r;, 4|i ,' fl..,. -.^ -"i'r ■-. . I s ..»sl 15. St. Pöltener Missale: Prozession vor der Stiftskirche. New York, Morgan Library, Einzelblatt M. 884—2 (Pierpont Morgan Library, New York) seiner Buchstaben werden mit relativ schlichtem Blattwerk gefüllt, dessen ein wenig schematische Zahnung ebenso wie die oft in halber Schafthöhe begegnende Vierblatt-ßosette wieder dem Typen vorrat des Lyra-Meisters entstammt (vgl. Abb. 8 mit Abb. 1, 3, 7, 13, 14). Die schmale Rahmenleiste des Nürnberger Kanonbildes ist mit locker gereihten alternierend rhomben- und kreisförmigen Auf lagen verziert (Abb. 6); die gleiche Ausstattung weist der Rahmen um die Hauptinitiale des Wiener Psalmenkominentars auf (Abb. 8). In deutlichem Gegensatz zu dieser engen Übereinstimmung der dekorativen Details stehen die nicht unbeträchtlichen Unterschiede der figürlichen Malereien, die beim Lyra-Meister - ungeachtet seines liebenswürdigen Charmes und seines hohen technischen Niveaus - stets eigenartig temperamentlos wirken. Immerhin lassen sich auch hier Einzelzüge nachweisen, die die vermuteten Beziehungen unseres St. Pöltener Illuminators zur Wiener Hofwerkstatt bestätigen: Seine silbernen Rüstungen, von denen schon eingangs die Rede war, begegnen in gleicher Form und Technik in der New Yorker ,,Historia de corpore Christi"^®, und den Evangelisten-Medaillons des Nürnberger Kreuzigungsblattes (Abb. 6) lassen sich Einzelfiguren der Wiener Lyra-Handschrift (Abb. 5) zumindest an die Seite stellen. Die zarten Strahlen-Nimben der Nürnberger, New Yorker und Züricher Initialfiguren (Abb. 1, 3, 7, 12-14) gehören ebenfalls zu dem spezifischen Formenrepertoire der Wiener Werkstatt und hier wieder besonders des Lyra-Meisters (Abb. 8, 9). Schließlich lassen auch noch andere Beobachtungen den Schluß zu, der St. Pöltener Maler sei mit dem Schulgut der Wiener Hofminiatoren vertraut gewesen. Der verknotete Stab in der Randleiste des zweiten New Yorker Blattes®" hat Analogien auf fol. 30v und 47r des Wiener Rationale Durandi®i ; auf fol. 138r der gleichen Handschrift findet sich eine Kreuzigungsdarstellung, Vgl. Anna. 28 und die Abbildung bei Harrsen, a. a. O., Taf. 62. Harrsen, a. a. 0., Taf. 66. Vgl. die Reproduktion von fol. 30v (noch vor 1395) bei K. Oettinger, Die gotische Buchmalerei in Österreich (in: Die bildende Kunst in Österreich, Gotische Zeit, hsg. v. K. Ginhart, Baden b. Wien 1938), Abb. 66.
in der sowohl der gestreckt-gedrehte Christustyp als auch die eigenartige Klagegeste der Maria (ver hüllte, bis vor das Kinn angehobene Hände) dem Nürnberger Kanonblatt entsprechen®^. Der besonders ungewöhnliche, vom Kreuz abgewandte Nürnberger Johannes wieder hat sein einziges mir bekannt gewordenes Gegenstück in dem Kanonbild eines St. Florianer Missales, das ebenfalls in den Umkreis der Wiener Werkstatt gehört®®. Ikonographisch steht ferner der Nürnberger Augustinus (Abb. 13) der airalogen, von Meister Nikolaus stammenden Darstellung auf fol. 310r des Wiener Rationale Durandi außerordentlich nahe®^. Später scheinen manche Bilderfindungen des St. Pöltener Meisters auch wieder auf die Wiener Buchmaler zurückgewirkt zu haben: Einzelne Bewegungs- und Gewandmotive in der Te-igitur-Initiale des Turs-Missales im Wiener Diözesanmuseum (Abb. 11) dürften kaum anders als durch wenigstens mittelbare Kenntnis der Nürnberger Geißelung (Abb. 10) zu erklären sein®=. Alles in allem ist die besonders enge Verbundenheit der St. Pöltener Handschrift mit der Wiener höfischen Buchkunst des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts nicht zu bezweifeln. Hier aber, in dem besonderen und eigenartigen Milieu der kulturell aufblühenden habsburgischen Residenz, dürften dem St. Pöltener Meister auch jene Stilqualitäten vermittelt worden sein, von denen wir weiter oben vermuteten, sie stünden in Zusammenhang mit den Miniatoren des Jean de Berry. In der bisher vorliegenden Literatur über die Wiener Hofwerkstatt und über ihr frühes Hauptwerk, das Rationale Durandi, ist zwar immer wieder von böhmischen, daneben auch von italienischen Anregungen die Rede®®, doch hat man die nicht weniger bedeutende westliche Komponente übersehen, die sich vor allem in den figürlichen Malerien dieser Handschrift ausprägt. Der Illuminator der fol. 30v und 47r etwa ist zweifellos mit solchen französischen Buchmalern in Verbindung zu bringen, die an den ersten, um 1380/90 für Jean de Berry geschaffenen Handschriften mitgearbeitet haben®'. Die noch keineswegs erschöpfte historische Problematik der Wiener Hofwerkstatt kann hier freilich nicht in ihrem vollen Umfang behandelt werden, doch war wenigstens andeutungsweise eine Erklärung für die erwähnten westlichen Stileigenarten des St. Pöltener Missales zu geben. Daß diese Handschrift zu Werken der Wiener Hofminiatoren in enger Wechselbeziehung steht, erleichtert ihre Datierung sehr wesentlich. Nach dem Stil bzw. dem Typus der Initialen und Randleisten zu urteilen, muß sie etwa gleichzeitig mit den beiden Handschriften des Lyra-Meisters und mit den letzten Arbeiten am Wiener Rationale Durandi im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts illuminiert worden sein. Daß unser Maler Formulierungen des ausgereiften ,,Weichen Stils" nur zögernd und in Einzelfällen (etwa in der Maria der Darbringung, Abb. 12) annimmt, erklärt sich wohl aus seiner Verwurzelung in der Kunst des späten 14. Jahrhunderts, welcher er zweifellos die entscheidenden Eindrücke seines Bildungs ganges verdankte. Zudem stand ja die Malerei im Wiener Raum der graphischen Präzision und den reichen GewandmotiA^en des ,,Weichen Stils" böhmischer Prägung bis tief in das zweite Jahrzehnt ganz allgemein sehr reserAuert gegenüber; neben den Buchmalereien der Hofwerkstatt bezeugen dies auch die ersten Wiener Tafelbilder, die um oder kurz nach 1410 entstanden. In der Wiener Anbetung, der Budapester Epiphanie und dem Berliner ,,Christus in der Trauer"®® treffen wir auf Stil- und Stim mungsqualitäten, die mit denen unserer St. Pölteuer Miniaturen, namentlich der kleineren Initialbilder Stange, a. a. O., Band II, Abb. 87. Der gleiche Kruzifixus-Typ, der den Wiener Hofminiatoren offenbar besonders teuer war, findet sich noch in einer Gnadenstuhl-Darstellung von der Hand des Nikolaus auf fol. 3v des großen Klosterneuburger Anti phonars (cod. 67 der Stiftsbibliothek) aus den Jahren 1421/24 - hier übrigens, wie in Nürnberg, mit einem schleierartig durch sichtigen Lendentuch bekleidet (vgl. Oettinger, a.a.O., Anm. 28, Abb. 4). St. Florian cod. III, 205; vgl. Kletzl, a. a. 0., S. 3, Abb. 1. Kletzl bemüht sich hier mit großem Aufwand, diese Handschrift in die böhmische Entwicklung des späten 14. Jahrhunderts einzuordnen; demgegenüber hat sie Holter (a. a. O., S. 221) zweifellos richtig mit den Wiener Hofminiatoren in Zusammenhang gebracht. Mit der Vermutung, das St. Florianer Missale sei ebenfalls ein Werk des Lyra-Meisters, dürfte Holter allerdings um einen Schritt zu weit gegangen sein. ^ Oettinger, a.a.O., Anm. 28, Abb. 9. Das Missale des Dompropstes Wilhelm Turs entstand um 1425/30. Sein Kanonbild (Oettinger, a. a. 0., Anm. 31, Abb. 15) ist ein Spätwerk des Meistors Nikolaus, während das Te-igitur-Bild und einige andere Bildinitialen möglicherweise als die ältesten bekannten Malereien des in Wien von ca. 1435 bis gegen 1450 dominierenden Albrechtsminiators anzusprechen sind (vgl. zu diesem Holter, a. a. 0., S. 222f.). Oettinger, a. a. O., Anm. 31, S. 153, und Holter, a. a. O., S. 220. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Maler der meisten Psalmen-Illustrationen im Psalter des Herzogs von Berry (Paris, Ms. Fr. 13091), den die Forschung zugunsten des berühmteren Andre Beauneveu, der die schönen Prophetenbilder dieser Hand schrift schuf, meist allzusehr vernachlässigt. (Es handelt sich hier um jenen Künstler, den Millard Meiss in Art Bulletin 1956, S. 191, als Hand B dieser Handschrift bezeichnet.) Stange, a. a. O., Band XI, Abb. 6, 7, 25.
viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Das gilt für die kubische Körperlichkeit der summarisch umschrie benen Figuren mit ihren oft ein wenig spröden Gewandfalten, für die manchmal überraschende Tiefe der Raumbühnen und auch für jene verhaltenen Ausdruckswerte, die den besonderen Reiz dieser Täfelchen ausmachen. Und wenn Stange®^ vom Meister der Wiener Anbetung sagt, daß er, aus der Tradition des Wittingauers kommend, derselben westeuropäische Anregungen assimiliert habe, zu der gleichzeitigen böhmischen Malerei aber in deutlichem Gegensatz stehe, so deckt sich das weitgehend mit unseren Beobachtungen über die kunstgeschichtliche Stellung des St. Pöltener Illuminators. Dessen vorläufig einziges Werk, das hier besprochene Missale, dürfte also um 1400-1410 entstanden sein; unser nicht allzu differenziertes Bild von der Malerei Donauösterreichs in diesen Jahren erfährt damit eine sehr willkommene Bereicherung. Einige Detailfragen haben wir vorläufig bewußt ausgespart. So möchte der Verfasser nicht entscheiden, ob der gesamte Schmuck unserer Handschrift von einem Meister stammt oder ob (und inwieweit) daran auch Gehilfen beteiligt waren, ohne vorher die New Yorker Blätter im Original untersucht zu haben^". Ferner scheinen gewisse Eigenschaften der St. Pöltener Miniaturen auf Beziehungen ihres Schöpfers zu Werken größeren Formats hinzuweisen; dieser mag also auch als Wand- oder Tafelmaler tätig ge wesen sein und könnte bei einigem Glück als solcher nachgewiesen werden. Dergleichen bleibt freilich Spekulation, ehe nicht weitere Funde unser Bild von dieser bemerkenswerten Künstlerpersönlichkeit abgerundet haben. Daß der Meister seine Handschrift nicht nur für St. Pölten, sondern - wie die exakte Darstellung der Stiftskirche beweist - auch an Ort und Stelle illuminierte, köimte schließlich dazu anregen, in zukünftigen Studien über die niederösterreichische Spätgotik auch den kleineren Zentren, die bisher wohl allzusehr im Schatten der Residenzstädte Wien und Wiener Neustadt standen, eine gewiß lohnende Aufmerksamkeit zuzuwenden. ™ A. a. O., Band XI, S. 9f. Für alle Auskünfte über diese darf ich hier den ungemein entgegenkommenden Konservatoren der Pierpont Morgan Library ebenso herzlich danken wie deren Leitung für die Erlaubnis zur Reproduktion ihrer Objekte. Peteb Pötsohxer DIE WIEDERHERSTELLUNG DER ALTERSWOHNUNG GRILLPARZERS IM HISTORISCHEN MUSEUM DER STADT WIEN V orgeschichte Am 24. Mai 1878 richtete Katharina Fröhlich, die Universalerbin Grillparzers, folgenden Brief an den Bürgermeister von Wien, Dr. Cajetan Felder^: Euer Hochwohlgeboren! Geleitet von der Absicht, den literarischen und sonstigen Nachlaß Franz Grillparzers vollständig und in würdiger Weise der Nachwelt zu überliefern, erbietet sich die unterzeichnete Erbin desselben, alles was sich davon in ihrem Besitze befindet, in das unveräußerliche Eigenthum der Großcommune Wien zu stiften, und zwar I. die sämtlichen vorhandenen Handschriften seiner Werke, der gedruckten wie der ungedruckten; II. die sämtlichen vorhandenen Briefschaften, Urkunden, Diplome, Ehrengeschenke, Andenken etc.; III. seine ganze Handbibliothek, so wie dieselbe von ihm hinterlassen wurde; IV. endlich auch seine ganze Zimmereinrichtung, seinen Schreibtisch, sein Ciavier und seine sonstigen Möbel und Utensilien. ' Stadtarchiv, Hauptarchiv ZI. 135 ex 1878, Fasz. 3.57. Enthält alle die Schenkung betr. Akten.
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