Österreichische Zeitung für Kunst und Denkmalpflege

EINE MITTELALTERLICHE DARSTELLUNG DER ST. PÖLTENER DOMKIRCHE Von Gerhard Bittner Auf einem Blatt einer österreichischen Handschrift der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus dem Besitze der Pierpont Morgan Library in New York (M. 884) befindet sich am unteren Rande ein breiter Bildstreifen mit der Darstellung einer Mönchsprozession, die sieh auf eine (am rechten unteren Bildrand dargestellte) Kirche zu bewegt (Abb. 140). Schon seitens der Leitung der Morgan Library wurde die abgebildete Kirche auf Grund einer genauen Untersuchung des Textes als die ehemalige Stiftskirche (heute Domkirche) von St. Pölten angesprochen. Ein Vergleich mit dem heutigen Baubestand der Domkirche soll diese Identifizierung festigen. Der Direktion der Pierpont Morgan Library, inshesonders Miss M. Harrsen, sei hier für die freundlichen Mitteilungen und für die Überlassung von Photos aufrichtig gedankt. Es handelt sich um zwei Blätter eines Responsoriums, wahrscheinlich für den Gebrauch in einem Zisterzienserkloster. Die auf einer Seite in einer Initiale dargestellte Figur des hl. Hippolytus macht die vorgeschlagene Identifizierung fast zur Gewißheit. Die ehemalige (Augustiner Chorherren-) Stiftskirche von St. Pölten stellt eine dreischiffige querschifflose (barockisierte) Säulenhasilika dar, deren mittelalterliche Bausubstanz aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammt^. Dem 12. Jahrhundert gehört vor allem das Westwerk an, allerdings in der durch den Wiederaufbau des 16. Jahrhunderts veränderten Form (Abb. 139). Langhaus und Chor entstammen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, mit Ausnahme der nördlichen Seitenschiffmauer und Teilen des Südchors (vornehmlich der Apside; heute als Rosenkranzkapelle mit zwei Jochen des südlichen Seitenschiffes ein selbständiger Raumkörper). Ein Vergleich des Westwerkes mit der auf der Abbildung der Handschrift dargestellten Kirche mit dem heutigen Baubestand zeigt eine weitgehende Übereinstimmung der Bauteile. Der abgebildete Portalvorbau kann die bisher offene Frage der ehemaligen Portalanlage klären. Die enge Stellung der beiden Türme hat bisher an einem offenen Zwischenraum mit erst dahinter liegender Vorhalle mit Portal denken lassen. Der dargestellte Portalvorbau, welcher beiderseits die Turmkörper übergreift und sohin vor die eigentliche Fassade vorgezogen erscheint, gewinnt nunmehr die entsprechenden Dimensionen und ist durch ein anscheinend sehr reich ausgestattetes Trichterportal ausgezeichnet. Was die beiden Türme selbst betrifft, so werden diese ziemlich übereinstimmend^ als dem Bau von 1150 angehörend datiert. Donin legt® ausführlich dar, daß die beiden Nachrichten, welche sich auf Baudaten der Türme für das 16. Jahrhundert beziehen, nur scheinbar einen Widerspruch mit dem Baubefund bilden. In der Stiftschronik wird von Propst Johann III. Marquard (1515—1530) berichtet, daß er ,,einen großen Kirchturm gebaut, den anderen aber bloß zur Hälfte". In der gleichen Stiftschronik wird mitgeteilt, daß Leopold II. Hagen (1539—1563) ,,zur Erbauung und Erhöhung des Kloster kirchturmes und einer Lateinisch Schul" 650 Gulden verbraucht habe^. Schon Donin bemerkt®, daß gegen die Auffassung der Chronik, daß es sich um Neubauten handle, der Baubefund des Westwerkes und die Lage des Südturmes, wie dieser vom später erbauten Langhaus umfaßt wird, spricht. Die ganze Erscheinung des Turmes selbst zeigt einen ausgesprochen romanischen Charakter. Der Nordturm hingegen wurde vermutlich nach dem Brande von 1512 in alten Formen wiedererrichtet, allerdings nicht mehr über Dach geführt. Auf diese Bautätigkeit weisen die beiden Jahreszahlen 1520 und 152.3 an der Westfassade der Kirche hin. An der Südseite des Südturmes ist auch noch ein romanisches Fenster erhalten, welches in späterer Zeit zu einem Eingang verlängert wurde (Abb. 141). Dieses ^ Dehio, Handbuch der Österr. Kunstdenkmäler, Niederösterreich, 4. Auflage, S. 297ff.; R. K. Doiiin, Der mittelalterliche Bau des Domes zu St. Pölten, SD aus den Mitteilungen d. Ver. f. Geschichte der Stadt Wien, Band XII, Wien 1932; R. Pühringer, Denkmäler der früh- und hochromanischen Baukunst in Österreich, Abh. d. Akad. d. Wiss., phil. hist. Kl. 70. Bd., 1. Abhandlung, Wien 1931. 2 Donin, a. a. O., S. 6. ^ Donin, a. a, O., S. 7. ^ Donin, a. a. O., S. 7, Fahrngruber, Aus St. Pölten 1885, S. 224. 5 Donin, a. a. O., S. 8. 13 Denkmalpflege

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2