Neue Revue vom 26. April 1956

„Ich bin lcingst volljährig, Vati - und völlig selbständig", sagte lnge ruhig. Die Faust des Amtsrats fiel schwer auf den Tisch. Er rief zornig: .,Egal! Heiraten wirst du ihn nicht!" Zeichnung: Paul Aigner Gnstav Rnderiseh: alJj Der Roman eines Blinden·- von einem Blinden Der Architekt Hans Krüger, der nach einem Motorradunfall das Augenlicht 'verlor, will Telefonist werden. Inge Rad– loff, seine Verlobte, hat Ihn mit Frau Llnda zusammengebramt. Von Ihr soll er die Blindenschrift erlernen. Die Leh– rerin, dle selber blind lsl, erzählt die ersmütternde Geschimte des Erfinders der Bllndensdulft, Louis Brallle. Ein be– trllgerischer Drudcerelbesitzer erreicht durm Bestediung zweier Blindenlehrer, daß den Blinden Brallles wunderbares Ge– smenk vorenthalten wird. Louis Brame, der audi die Notensmrlft für Blinde erfand, hat die blinde Marguerlte zur Klaviervirtuosin ausgebildet. Während Brallle mit dem Tode ringt, gibt das junge Mäddien sein erstes Konzert, pro– tegiert von einer reichen alten Baronin. 20 A ls Marguerite auf der Bühne er– schien, empfing sie wohlwollendes Klatschen. Man reckte die Hälse. Die Kleine wirkte sehr zart, sehr jung und ernst. Sie tastete sich an einem Stock die drei Schritte zum Klavier, setzte sich behutsam. Noch einmal wandte sie ihr Gesicht dem Publikum zu. Alle sahen, daß sie blind war. Der Appell dieses toten Blickes erzeugte Rührung. Unwillkürlich ging ein Mur– meln durch die Reihen. Da hob Marguerite ihre schmale Mäd– chenhand, bat um Ruhe. Eh bienl Sie ist blind. Das ist gewiß · sehr traurig. und verdient Rü&.sicht– nahme. Aber es wird oehauptet, sie könne wundervoll spielen! Nur zu, petite Margueritel Doch hat man dir auch ge- Copyright by Kindler Verlag München sagt, daß wir auf dem Gebiet der Kunst keinen Spaß verstehen, ohne Mitleid sind? Marguerites Gönnerin, die Baronin, spürt die gespannte Stimmung und nickt ermutigend zur Bühne hinauf. Gleich dar– auf schüttelt sie ärgerlich den Kopf. Die Kleine kann das ja gar nicht sehen! Man kann ihr nicht helfen, sie ist allein. Ganz allein ... Ja, Marguerite ist allein. Sie ist es im· mer. Und nun fängt sie zu spielen an. Es ist sehr still im Saal. Ihr Spiel blüht in hinreißender Vollendung auf. Man will es zuerst nicht fassen. Doch dann gibt man sich ganz dem :Z.auber hin. Nach dem ersten Stück dringt brausen– des Klatschen an das Ohr der Blinden. Eine feine Röte steigt in ihr Gesichtchen. Sie steht auf und dankt mit einem un– sicheren Knicks. Die Augen der Zuhörer werden feucht. Marguerite spielt weiter. Sie feiert einen beispiellosen Triumph. Einer der kühlen Kritiker klatscht so heftig, daß ihm die Handschuhnähte platzen. Die Ba– ronin ist außer sich vor Stolz. Tagelang wird ganz Paris nur von ihr sprechen. Von ihr? Wirklich? Die ehrgeizige Dame weiß noch nicht, daß ihr blinder Schützling eine gant andere Diskussion entfachen wird! Das Verbrechen an den Blinden Als Marguerite sich am Schluß des Konzertes mit dem Stock zur Rampe tastet, rauscht stürmischer Beifall auf. Aber stärker als alle Begeisterung ist die Ergriffenheit, die plötzlich alle üb~r– kommt. Schluchzen ist zu hören. Nie– mand schämt sich mehr seiner Tränen. Auch der jungen Blinden perlen h~iße Tränen über das zarte, bleiche Gesicht• chen. Sie aber holt kein Taschentuch hervor, steht in tiefer Erschütterung, lautlos weinend, bittet mit weit ausge– breiteten Armen um Ruhe, Die Kleine will sich sicher für den Bei– fall bedanken? Will sie gar einige Worte dazu stammeln? Das ist nicht üblich, aber sie ist ja blind! Lassen wir sie doch. Schweigen tritt ein, und Marguerite beginnt zu sprechen: .Meine Damen und Herren, Ihr Beifall gebührt nicht mir, sondern meinem Leh– rer. Während ich spielte, während Sie klatschten, ringt er mit dem Tode! Ihm verdanke ich alles, und i h n hat man verraten ...• Betroffenheit breitet sich aus. Was er– zählt diese Blinde da? Louis Braille, ein Blinder, hat eine Schrift erfunden, die jeder Blinde schrei– ben und lesen kann? Er hat auch einen Musikcode erfunden? Was? M-an unter– schlägt seine Erfindung, weil ein sdlur– kischer Druckereibesitzer an einer un– zulänglichen, primitiven Methode Geld verdienen will ...? - Marguerite schreit den Verrat unter Tränen hinaus. Den ungeheuerlichen Verrat, der an den Blinden der ganzen Welt begangen wird. Atemlos hört man ihr zu, starrt auf ihre toten, lichtlosen Augen, folgt erschüttert ihrem glühen– den Appell, Louis Braille zu helfen. Plötzlich bricht das grazile Mädchen, von Schluchzen geschüttelt, zusammen. Alles ist aufgesprungen und spricht fassungslos durcheinander. Vergessen ist die Baronin, vergessen ist beinahe das Spiel ihres Schützlings. In ungeheu– rer Erregung verläßt man den Saal, trägt Marguerites Anklage und Bitte noch in derselben ~acht durch die Salons, Cafes und auf ·die Straße ... Es bleibt nicht bei empörten Reden. Die Pariser Presse schlägt Lärm. Ein Sturm der Entrüstung bricht los. Hohn wird über die oberflädilime Ablehnung Brailles durch die Akademiker gegossen. Flammende Anklagen treffen den Druk- - kereibesitzer und das Direktorium des Blindeninstituts. Die ganze Schurkerei kommt ans Tageslicht. In der Druckerei treten die Arbeiter in Ausstand. In ihren blauen Blusen ste– hen sie ver dem Werkraum, wärmen sich mit rotem Wein. Die leeren Flaschen werden unter Flüchen ins Kontor ge– schleudert. Durch Paris rast ein •Ent– rüstungssturm, der· nicht abreißen will. Es ist nidlt zu fassen : ein Franzose bringt den Blinden Licht und Glück .in die Dunkelheit - und die bestellten Herren die über das Wohl diese.r Un– glücklidlen zu wachen haben, lassen sich von einem Schurken bestechen! Von heute auf morgen wird dafür ge– sorgt daß die Sdluldigen verschwinden, daß Bücher und Lehrmittel in Punkt– schrift für die Blinden eingeführt wer– den. Die Nachricht von Brail-les Erfindung erreicht die Weltöffentlichkeit. Aus a1len Ländern kommen Sachverständige. Und siehe da: Die Punktsdlrift ist ein Wunder ohnegleichen. Sie kann in alle Sprachen übernommen werden. Louis Braille ist tot. Aber er durfte noch von dem ersten Triumph seiner "gefrorenen Klopfer• erfahren. Er weinte •vor Glück, daß er nicht umsonst gelebt hatte•. Am 6. Januar 1852 mußte er die Welt verlassen, und Bitte lesen Sie weiter auf Seite 40

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