Neue Revue vom 26. April 1956

Das Leben eines britisc Der F-rauenheld, der über Leichen ging CHESNEYS DÄMONISCHER BLICK zog immer wieder die Frauen In seinen Bann. Dieser Pirat des 20. Jahr– hunderts, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg In Norddeutschland sein Unwesen trieb, wollte nur ein genußreiches Leben führen. Er schmuggelte, raubte, sdlob - und beseitigte jeden ·unbequemen Mitwisser. 16 D as schmutzig braungelbe Hemd des Russen zu Gerdas Füßen färbte sich über.der Brust rot. Gerda, die Pistole noch in der Hand, starrte ohne Bewe– gung auf ihn nieder. Er hatte sandhelle Wimpern und kurzgeschorene Haare und lag zusammengekrümmt wie eine sterbende Wespe. Der würde sie nicht mehr schän– den, der nicht mehr, und sie würde dies alles nie ver– gessen, nie ... nie ... Sie dachte immer dasselbe. Im nächsten Augenblidc kam die 'Angst. Es war nicht vorzustellen, was man mit ihr tat, wenn man sie ü_ber– raschte. Die Russen würden den Tod des Kameraden rächen, und kein Mittel der Rache würde ihnen für ihre Vergeltung schredclich genug sein. Das Grauen schüttelte sie. Das Haus lag totenstumm - war der Schuß nicht gehört worden? Plötzlich stöhnte es hinter ihrem Rüdcen, und sie schrie auf. Sie hatte die Frauen, i.hre Mitgefangenen, vergessen. Sie erholten sich von dem lähmenden Entsetzen, und eine stöhnte auf, tief und qualvoll. Gerda lief zum Fenster, riß es auf und wagte den Sprung in die Tiefe. Sie stürzte, raffte sich auf und begann zu laufen, und es war wie schon einmal, in ihrer Kehle'•brannte ein wildes, verzweifeltes Schluch– zen. Sie wollte nicht sterben, sie war so jung. Es war dunkel gewesen, als sie den Marsch zum 'Hause hatte antreten müssen, aber ihr Instinkt verließ sie nicht, sie fand den Weg zurüdc, die Richtung zur Grenze, und jagte dahin zwischen Bäumen und durch Gesträuch und Gestrüpp. Jede Sekunde erwartete sie, das verruchte .Stojl" und wieder Schüsse und wieder das Pfeifen der Kugeln zu hören. Nichts. Stille. Sie hörte nur ihren eigenen, pfeifenden Atem, und in einem Feld brach sie zusammen. Uber ihre Lippen kam ein dünner Wehlaut, und dann wußte sie nichts mehr. Der Regen fiel still und kalt. . Eine Stunde später fand sie der Bauer.Das Gesicht gegen den nassen Boden gepreßt, die Finger in die weiche Erde des Adcers gebohrt, lag sie, und der alte Mann dachte, daß sie tot sei, erschossen auf der Flucht. Er bildete sich nieder zu dem Bündel Mensch und fuhr zurüdc, als er bemerkte, daß noch Leben in ihm war. Dann stellte er das Mädchen mühsam auf die Beine. Sie starrte ihn aus glasigen Augen an und überlegte lange, dann murmelte sie: •Wo bin ich?" Der Bauer, der Mann von der Grenze, wußte, was sie wissen wollte. .Bei uns•, antwortete er, .in Sicherheit.• Er führte sie in sein Haus. In Dedcen gehüllt, wärmte sie sich an dem braunen Kachelofen auf, dann schlang sie ein Essen hinunter wie ein ausgehungertes Tier, und dann schlief sie 48 Stunden lang. Als sie sich von den freundlichen Alten verabschie– dete, warf sie noch einen langen Blidc zur Grenze hin– über. Sie würde das alles nie vergessen, nie, nie, und sie konnte nicht mehr zurüdc, eine Tür war hinter ihr ins Schloß gefallen. Aber sie hatte keine Furcht. Es kam ihr vor, als ob sie das Dunkle und Wüste und U-n– berechenbare hinter sich ge.lassen hätte - und daß vor ihr die Zukunft lag, klar, ordentlich u.nd übersdl,aubar. Sie hatte sie in der Sittsamkeit zu bestehen, in deF sie von den Eltern erzogen worden war. Sicher, daß es so gekommen wäre. Aber sie hätte nic:ht Ronald Chesney begegnen dürfen ... Auf überfüllten·Zügen, auf offenen Kohlenloren und in Abteilen ohne Fenster schlug sie sich durch bis Buxt~hude, und zwei Tage später stand sie im Lager vor-Barbara, verdredct, verschmutzt, elend vor Hunger, ein zerfetztes Fähnchen am Leib, zitternd vo.r Kälte. Ohne Gepädc, ohne Ausweise und Papiere, aber glüdc• lieh und hoffnungsvoll. Barbara, von Gerda nur Babette genannt, erkannte sie kaum wieder. Dann schlug sie die Hände zusarn– •men.•Lieber Gott, wo kommst du her?• •Von drüben natürlich.• .Ja; und?" fragte Barbara dumm. _ .Ich woJlte dich besuchen. Komme ich ungelegen?" .Aber natürlich nicht. Ich bin ganz durcheinander. Lieber Gott, wie siehst du aus t• Barbara brachte Gerda auf ihr Zimmer, und Gerda blickte in eine Welt, von der sie glaubte, daß es sie nicht mehr gab. Ein blitzblankes Zimmer, wohlig wami. Tisch- und Bettwäsche schneeweiß. Brot, Butter Scho– kolade, Fleisch, Wurst, Kekse. Seife und Wasch- und Schönheitsmittel. Das war Barbaras Heim, das war ihr Reich. Es war ein Königreich für sich. Gerda ging mi.t ungläubigem Staunen umher, dann fragte sie zweifelnd: •Wohnst du hier allein?" .Ja, gewiß." .Und ich kann hierbleiben?" .Aber natürlich. Wo solltest du sonst wohl bleiben?" Barbara besann sich kurz, stodcte und fuhr fort : .Das heißt ... aber das werden wir schon kriegen ... • .Es ist nicht auszudenken•, murmelte Gerda, .so schön habe ich es mir nicht vorgestellt.• Barbara schwieg eine Weile und schob die Unter- lippe über die Oberlippe, dann antwortete sie : .Es hat auch seine Schattenseiten, weißt du. • •Was sagst du?" • fch sagte, wo Licht ist, ist auch Schatten.• Gerda, achtzehn Jahre alt, sah sie ungläubig an. Sie entdedcte keine Schatten, für sie war alles in Licht getaucht. Barbara wechselte das Thema und fragte: . Bist du schwarz über die Grenze?" .Ja, schwarz.• .Kamst du gut rüber? Ohne Schwierigkeiten?" Gerdas Lider zuckten, und ein wenig zitterten ihre Lippen bei der Antwort:

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