94 Bevölkerung noch tausende Flüchtlinge kamen, die auch verpflegt werden mussten. Die beherzten Menschen, die in dieser Stunde das Schicksal ihres Stadtteiles in ihre Hände nahmen, standen vor keiner beneidenswerten Aufgabe. Es gab keine Milch, kein Brot, kein Fleisch und keine fahrbereiten Fahrzeuge. Zuerst galt es, die Versorgung mit Lebensmitteln, vor allem Milch für die Kinder, in Schwung zu bringen. Die wenigen Milchkühe im Einzugsgebiet reichten aber bei weitem nicht aus. Dazu kam, dass die Bauern nicht bereit waren, für die kostbare Milch Geldscheine zu nehmen, weil deren Wert keinesfalls gesichert war. Nur für Tabak waren die Bauern bereit, im Gegenwert Milch herzugeben. So mussten die ‚Milchkommandos‘ Tag und Nacht Tabak beschaffen, wobei ihnen der Umstand zu Gute kam, dass auf Grund der Kriegswirren in den letzten Wochen am Steyrer Hauptbahnhof 36 Waggons gefüllt mit Tabakblättern „liegengeblieben“ waren und sie sich davon bedienen konnten. Bereits um zwei Uhr in der Früh waren die Milchabholer bei den ersten Bauernhöfen. Da es in ganz Steyr-Ost keine zehn intakten Lastautos gab – und die auch noch dazu sogenannte ‚Holzvergaser‘ waren – mussten die Milchkommandos zuerst mühsam ‚Treibstoff besorgen‘, d.h. Holz schneiden und klein hacken!“110, so schildert Otto Treml in seinem Bericht, um dann noch zu ergänzen: „Trotz dieser ungeheuren Schwierigkeiten war es möglich, die Kleinkinder und Säuglinge sowie die stillenden Mütter mit Milch zu versorgen.“111 Erst Wochen später erfuhr man durch einen glücklichen Zufall, dass am Bahnhof in St. Valentin Waggons – auch wieder kriegsbedingt – stehen geblieben waren, die „Molkereimaschinen“ geladen hatten. Es gelang schließlich mit viel Mühe diese Einrichtungsgegenstände und Gerätschaften nach Steyr zu transportieren und im stark bombengeschädigten, notdürftig instand gesetzten Brauereigebäude in der Pachergasse 9 behelfsmäßig eine Molkerei einzurichten, die unter der Leitung von Julius Böhm ihren Betrieb aufnehmen konnte. „Es war eine Sensation, als zum ersten Mal nach langer Zeit zwei Gramm Butter für jedes Kind erzeugt und ausgegeben werden konnten.112 110 Otto Treml, 1945: Befreiung und Wiederaufbau in Steyr, entnommen der „Festschrift zum 50. Jahrestag der Befreiung Österreichs. 40 Jahre Staatsvertrag“, 1995, S. 24 ff 111 Ebd. S. 24. 112 Ebd. S. 24.
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