Die Stadt Steyr, Nachkriegszeit – Besatzung – Wiederaufbau 1945 - 1955

41 menschlichen Verhaltensregeln abgelegt oder verloren. Einfache Bürger, Familienväter, durchschnittliche Dorfbewohner, die alle ihrer normalen Arbeit nachgingen und sich auch um ihre eigenen Familien kümmerten, entpuppten sich plötzlich als monströse Täter und schlugen wie von Sinnen auf ihnen völlig unbekannte Menschen ein. Es gab aber auch immer Gott sei Dank mutiges Eingreifen einzelner – meist Frauen -, die versuchten, den völlig ausgehungerten und durstigen Frauen und Männern zu helfen. Durch diese Zivilcourage, die sie dabei an den Tag legten, gefährdeten sie sich aber oft selbst. Wenn man die genau recherchierten Texte von Ines Bernt-Koppensteiner liest, so ist man danach traumatisiert von den Schilderungen, die auf rund 90 Interviews aufbauen. „Die Elendsgestalten wankten durch Garsten und wurden von der entsetzten Bevölkerung mit Schrecken wahrgenommen. Von Garsten führte eine der Marschrouten den Sarninger Berg hinaus. Vor der Brotfabrik Reder erlebte die Frau des 1938 enthobenen Gemeindearztes von Garsten45, Adele Wichtl, den Marsch ungarischer Jüdinnen und Juden, als sie Brot einkaufen ging. Die Frau war umso entsetzter über die völlig unterernährten Menschen in ihrem extremen schlechten gesundheitlichen Zustand, da ihr Mann auch GestapoHaft erlebte. Sie aßen Gras und Schnecken und alles, was am Straßenrand wuchs, und die Bewacher schlugen mit ihren Gewehrkolben auf sie ein, wenn einer nicht weitergehen konnte. Sie ersuchte die Verkäuferin, einen großen Laib Schwarzbrot in Stücke zu schneiden und begann diese, an die Gefangenen zu verteilen. Das kam aber nicht gut an: Einer der Bewacher, ein Volkssturmmann, kam auf sie zu und drohte, sie solle das sofort unterlassen oder sie gehe gleich selbst mit. Auch ein damals 16jähriger im Lagerhaus, Josef Böhm, beobachtete diesen Marsch der jüdischen Gefangenen an fast derselben Stelle. Er sagte, es sei eine Katastrophe gewesen. Sie seien durch die St.-Berthold-Allee, über den Sarninger Berg, in die Leopold Werndl-Straße, und wie es dann 45 Regierungsrat Dr. med. Rudolf Wichtl, 1872 – 1956, war von 1900 bis 1938 für die medizinische Versorgung von Garsten und Aschach an der Steyr zuständig; ab 1928 war er auch Chefarzt in der Garstner Strafanstalt, eine Funktion, die er auch noch von 1945 – 1947 ausübte, nachdem ihm die amerikanische Militärregierung als 73-Jährigen die Rückkehr erlaubte. Am 12. März 1938, unmittelbar nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten, wurde Dr. Wichtl verhaftet und in das Steyrer Polizeigefängnis gebracht, Dort musste er bis zum 15. April 1938 bleiben und wurde dann zwangspensioniert. Näheres dazu: Grumböck, Thomas: Doktor Wichtl – Die Biografie eines unbeugsamen Landarztes, Eigenverlag Thomas Grumböck, 2018

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2