Die Stadt Steyr, Nachkriegszeit – Besatzung – Wiederaufbau 1945 - 1955

261 50 kleine Parzellen und überlässt es 50 arbeitslosen Familienvätern, die über kein Einkommen verfügen, damit sie dort Kartoffeln und Gemüse anbauen können. Dieses einzigartige Projekt wird „Erdsegen“ genannt, war damals vor allem auch ein Treffpunkt für die jüngere Generation und ist als Bezeichnung heute noch ein Begriff. Diese sozialen Aktivitäten verbunden mit dem geistlichen und menschlichen Zusammenhalt der Gemeinde bringen der Evangelischen Pfarrgemeinde einen großen Zulauf. Dass die Evangelische Gemeinde in Steyr weiter so rasant wächst, hat ihre Gründe auch in der „Los von Rom Bewegung“506, in der Tatsache, dass die katholische Kirche keine Feuerbestattung zuließ und nicht zuletzt in den Konsequenzen, die viele Bürger aus den prägenden Erlebnissen und Ereignissen des Bürgerkriegsgeschehens 1934 zogen. Über 2.000 Menschen wechselten damals in Steyr die Konfession und traten der Evangelischen Gemeinde bei. „Die Enttäuschung über das Verhalten der katholischen Kirche ist so groß, dass die evangelische Kirche für viele Steyrer eine attraktive Alternative ist. Pfarrer Fleischmann erteilt in der vollbesetzten Kirche den Übertrittsunterricht. Die Evangelische Pfarrgemeinde A. B. Steyr ist zu 90% eine ‚Übertrittsgemeinde‘“.507 „In jener Zeit gibt es keine ökumenischen Brücken. Nach der Niederschlagung des Aufstandes im Jahr 1934 setzt die neue Verfassung die katholische Kirche wieder in den ‚Status einer staatlichen Macht‘. [….] Die Evangelischen sind benachteiligt.“508 In dieser – man könnte fast sagen – neuerlichen Situation der Diaspora, wächst bei den Evangelischen die Sehnsucht nach „Vereinigung mit der großen evangelischen Kirche im Mutterland der Reformation, ja auch nach der politischen Vereinigung mit Deutschland“.509 Auch Pfarrer Fleischmann hegt große Sympathien für den Aufschwung in Deutschland. „Mit Verständnis und Sympathie begleitet er in der Gefängnisseelsorge in Garsten in den Jahren 1934 – 1938 insgesamt 200 506 Die „Los von Rom Bewegung“ war eine im Wesentlichen politisch motivierte Strömung in Österreich, die um 1900 einsetzte und die Förderung des Konfessionswechsels von der katholischen zur evangelischen oder altkatholischen Konfession zu Ziel hatte. Sie wurde von deutschnationalen Kräften getragen (Georg von Schönerer). Die „Los von Rom Bewegung“ hatte auch zur Folge, dass die evangelische Kirche in Österreich einen gewissen deutschnationalen Einschlag bekam. 507 Siehe Lehner/Locicnik: Steyr – Stadt der Reformation. S. 491 508 Ebd. S. 492 509 Ebd. S. 492.

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