Migration - Eine Zeitreise nach Europa

130 Von vielen Bibliotheken lässt sich nicht mehr sagen, wann und auf welche Weise sie verloren gingen. Schon das Schicksal der ersten wissenschaftlichen Bihhothek hegt im Dunklen. Der griechische Philo soph Aristoteles besaß eine vollständige und systematisch geordnete Büchersamm lung. Nach seinem Tod setzte ein erbitter ter Kampf um den Nachlass zwischen den größten Bibliotheken des Altertums,jener von Pergamon und Alexandria, ein. T. Keith Dix (Universität von Georgia) refe rierte, dass die Athener die hegehrten Bücher zeitweise vergraben mussten, um sie vor Zugriffen zu schützen. Als der römische Konsul SuUa 86 v. Chr. Athen eroberte, nahm der die AristotelesBibliothek als Kriegsbeute nach Rom mit, wo sich die weitere Spur verliert. Andere Gelehrte wollten keine Universalhihliothek, sondern sammelten das Wissen über ein bestimmtes Fachgebiet. Johannes Regiomontanus, der bedeutend ste Astronom und Mathematiker des 15. Jahrhunderts, besaß eine einzigartige naturwissenschaftliche SpeziaLhihhothek. Richard Kremer (Dartmouth College) ist es gelungen,60 der ursprünghch rund 300 Bände zu lokahsieren; der Rest muss als verloren gelten. Das gesamte Wissen der Welt an einem Platz: diesen ewigen Mythos soll die große Bihhothek von Alexandria erfüllt haben, die alle anderen Sammlungen des Alter tums überstrahlte. Alexandria steht his heute für universale Gelehrsamkeit, gleichzeitig aber auch für höchste Bar barei. 700.000 Papyrusrollen soll die Bibliothek gehortet haben, als sie im Winter 48/47 v. Chr. hei der Eroberung der Stadt durch die Römer unter Cäsar wohl unbeabsichtigt in Flammen aufging. Die Tochterhihliothek in Alexandria fiel angeblich 391 n. Chr.fanatischen Christen zum Opfer. In Cambridge kam allerdings eine andere Version zur Sprache, die Luciano Canfora in seinem historischen Roman Die verschwundene Bibliothek (1986) populär machte. Demnach zerstör te erst 642 ein arabischer Emir die große Bibliothek, und zwar aus religiösen Gründen. Sechs Monate lang sollen die 4000 Bäder von Alexandria mit den Papy rusrollen geheizt worden sein. „The books leapt and danced like roasted birds, their wings ablaze with red and yellow feathers." Viele Bibliotheken gingen in Kriegen verlo ren. Nicht immer lässt sich klären, wie weit Absicht mit im Spiel war. Nach Alexandria wurde die kaiserliche Biblio thek von Konstantinopel zur bedeutend sten Bihhothek der Spätantike und des Mittelalters. Dort lagerten die literari schen Schätze der Antike, bis 1453 die Truppen des Sultans Mebmed II. die Stadt eroberten und das in 1000 Jahren ange häufte, unersetzhche Kulturgut vernich teten. Maryn Rady (Universität London) be richtete über die Bibliothek des ungari schen Königs Matthias Corvinus. Dieser Freund des italienischen Humanismus sammelte über 2.000 Handschriften von erlesenster Qualität an. Nach dem Sieg bei Mohäcs(1526)plünderten die Türken den königlichen Palast in Buda und zerstörten die zweitgrößte Bibliothek des Abend lands. Das königliche Archiv sollte per Schiff nach Bratislava gerettet werden, aber das Schiff sank und mit ihm das ge samte Archiv. In Cambridge kamen auch jüngste Bei spiele von Kriegsverlusten zur Sprache. Etwa 500.000 Bände der Universitätsbihhothek in Bukarest gingen im Dezember 1989 in Flammen auf. Sie stand am Platz der Repubhk, gleich neben dem wild um kämpften ZK-Gebäude. Das Bücheruni versum geriet somit zwischen die Fronten von Armee und Securitate. Hat man die Vernichtung zahlreicher unersetzlicher Handschriften und seltener Drucke im Eifer des Gefechts in Kauf genommen? Oder war es ein bewusster Akt von Kulturvernicbtung, angeordnet durch den unter gehenden Diktator? Mussten die wertvol len Bücher mitverschwinden, weil sich in der Bihhothek auch brisante Akten befan den,die vernichtet werden mussten? „Montag's band closed like a mouth, crushed the bock with wild devotion, with an insanity of mindlessness to his ehest." Kriege wurden von Eroberern oft zu syste matischen Kunstplünderungen genützt. Dominique Varry, Bibliothekar in Lyon, behandelte das Schicksal der französi schen Klosterbibhotheken nach der Fran zösischen Revolution und die Kunstraub züge Napoleons. Nach dem Vorbild der Römer heß der Feldherr Kunstschätze aus den eroberten Ländern als Trophäen nach Paris bringen. Aus der Vatikanischen Bibliothek entwendete Napoleon die 500 wertvollsten Handschriften, aus der Hof bibliothek in Wien 832 Handschriften und Drucke, aus Bibliotheken im Rheinland ca. 2.500 Handschriften und Tausende Inkunabeln. Bei der Restitution 1815 ver-

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