Migration - Eine Zeitreise nach Europa

126 a n a h i t Christian L o i cl l in der strassenbahn die sonne legt rück sichtslosen nachdruck anf grimm- und gramgesichter, wie sie in wien an manchen tagen zur allgemeinheit verdichtet sind, ich hin glücklich und aUeingelassen, weit offen nnd verzweifelt, warum gibt es kei nen harry smith hier? rumi! kannst du nicht noch leben? eine zeile fäUt mir ein, von rnmi: „ihr, die ihr eure gelühde zehn tausendmal gehrochen habt — kommt! wisst, dass nnsre karawane nicht Verzweif lung heisst." ich habe keine gelühde zu brechen hier und heute, aber hin alleingelassen wie nur je ein unrechtgläuhiger, gehöre unter in spirierte und weiss nicht, wo sie sind. ich sitze in kühler sonne auf einer hank am donaukanal, das buch im schoss ein vorwand, irgendwie anzufangen, einem beruf nachzugehen, mache gelegentlich eine notiz. schaue zu, wie spazierende kaimauer-, rosenheet-, asphaltentlang sich bewegen, und versuche zu erraten, was sie sehen, die karawane hier heisst: zuge macht und wiederholt, ich denke traurig, schaue, lese, da kommt eine Indianerin, feder im Stirnband, das kleid lang und weit und aus mehreren teUen, weiss und hlan, gitarre an der seite. sie schaut mir, während sie langsam vorbeigeht, so ins gesicht, dass ich nicht anders kann als „haUo"sagen.„haUo."sie lächelt nnd geht weiter,leicht und erdig, ich schaue ihr ein paar augenhlicke nach, beuge mich übers buch, habe mich festgelesen, vielleicht eine Viertelstunde. „was best du da?" sagt neben mir, die stimme tief und weich: die indianerin. klein, schlank und fest, ich hah sie nicht kommen gehört, ein gesicht, das weit ge reist ist. aus peru? guatemala? „es handelt von einem physiker aus der Sowjetunion, der KGB verfolgt ihn noch im exü. kleinhche lente, die leute kleinhal ten müssen."„warum hest du das?"„wenn ich wiU, kann ich einen aufsatz drüber schreiben."„gut. und was machst du wirk lich?" ich rezitiere einen spruch zum durch-mauern-gehen, und einen, damit grüne dinge wachsen und aus grünen din gen aUe färben werden, sie sieht erfreut aus. „ich hin vorher am wasser entlangge gangen. es bewegt sich mit der geschwindigkeit der erinnerung. dann hat sich der wind umgedreht, und ich hah es als zei chen gen ommen, dass ich zn dir zurück kommen soll, mach einmal meine tasche auf und schau, was drin ist." es ist eine gewobene tasche in blassen regenbogenfarben. ich mache den reissverschluss auf und finde ein taschenbuch, in packpapier gebunden, eine schrift, die ich nicht kenne, federn anf wellen, fischeingeweide. „was ist das?" sie nimmt mir das buch aus der hand. „früher hah ich fünftausend bücher gehabt, jetzt hah ich eins, jedesmal, wenn ich es lese, ist es ein anderes buch." sie schlägt, ohne zu su chen, eine seite auf. ihr gesicht geht auf, wie wenn jemand einen lange nicht gesehe nen, besten frennd in die arme nimmt,ich habe solche gesiebter im ethnologischen museum in new york gesehen: an Statuen von jünghngen, die der aphrodite opfer reichen: einer eine lebende taube, einer eine schale wein ... sie steht vor mir, das bnch in der hand, und singt, mit ihrer weichen, rauhen, weiten stimme, dass sich mir die haare an den armen aufstellen und drüben an der mauer die zwei polizisten, die Stehengebheben sind und uns beobach ten, herüberlächeln und weitergehen, das hed — ich kann nichts darauf sagen, erfange mich langsam,„was war das?" als sie sich wieder zu mir setzt, hat sie gesicht und stimme von einem kind, das einem andern ein geheimnis zeigt: „das war ein gedieht von einem mann namens mewlana dschelaleddin" — und ein Sing sang von namen, die wie verspielte ehrentitel khngen und die ich noch nie gehört habe, der name am ende ist rumi. sie hält das buch im schoss und übersetzt: „das lachen des derwisch: obwohl ich noch nie ein kind von tranrigkeit war-in letzter zeit lache ich noch mehr, beson ders, wenn du mich in den staub wirfst und mich zu staub machst, aber das, was mann nnd frau in glut bringt, ist für den derwisch der grösste scherz von allen." sie schaut mich prüfend und nicht unzweideu tig an. wir merken, dass wir reden kön nen. bewegen uns richtung schwedenplatz. „was ist dasfür ein name:anahita?"„so nenne ich mich selber, bei meiner familie hab ich fa'ime geheissen." „woher bist du?"„aus dem iran." wie alt kann sie sein? ich schätze vierzig. sie hält eine filmkamera,eine kleine alte handkamera, und dreht langsam die knrbel,im visier das wasser,ein schiff und die

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