Leopold Werndl und sein Sohn

HANS GUSTL KERNMAyR; LEOPOLD WERNDL UND SEIN SOHN DAS DACHSTEIN-BUCH

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LEOPOLD WERNDL UND SEIN SOHN Wahrheit und Dichtung über das Leben Steyr's größten Sohnes HANS GUSTL KERNMAyR Biographisdie Mitarbeit: HANS DOPPLER DAC HSTEIN»VERLAGS-GESELLSCHAFT, GRAZ

1949 Alle Rechte bei der Dachstein-Verlags-Gesellschaft Graz Dniek: Heiorich Stiasari S9bat, Qr&s

Meiner tapferen Frau nach schweren Jahren 2ugeeignet „Das Korn ist unser Eisen, der Weilen ist unser Stahl." (Stadt Steyr)

Wo die Wasser der Flüsse Steyr und Enns sich ge< schwisterlich umarmen, zwei große Täler sich treffen, dort liegt die Eisenstadt Steyr. Die Ausläufer der Alpen veiv flachen gegen Westen; gegen Norden drängen sie sich in das liebliche Donautal. Großmächtig reckt sich die Styra« bürg auf steinernem Hügel. Hohe, barocke Häuser zeugen von alter Kultur, stehen gewichtig auf Platz und Straßen. Schmale, gotische Giebeldächer grüßen den W^anderer, der durch die Auen gegen Enns in die Stadt kommt. Die Uhr am Rathaus zeigt seit vielen Jahrhunderten die Stunden. Kirchen mit ihren gottnahen Türmen ragen gegen den Himmel. Eine mittelalterliche Stadt ist Steyr. Nach jeder Nacht kommt ein Tag. Und das ist gut so. Es wäre schlimm, wenn kein Tag mehr käme. Die Wasserhämmer schlugen die lange Nacht hindurch, als auf dem Kalenderblatt der sechsundzwanzigste Februar achfezehnhunderteinunddreißig zu lesen stand. Es war ein son* nenbestrahlter Schneetag. Die Flüsse Enns und Steyr tru» gen an den Ufern dünne Eisränder, knirschten und knackten. Des Meister Leopold WerndPs Lehrbub Xaverius rannte, so schnell er konnte, vom Wieserfeld Nr. 44 in die Wohnung der Geburtshelferin in die Stadt, gleich neben dem Bummerlhaus, und läutete stürmisch an der Ziehglocke. Auf einer ovalen Porzellantafel stand in schwarzer, verschnörkelter Schrift zu lesen: Madame Anna Barometlerin. „Kommen S' g'schwind zur Frau Meisterin. Es ist so weit, hat der Herr Meister g%agt!" — „Madame",

so wurden alle Geburtshelferinnen gerufen, ein altes Mut* terchen, hatte nicht weniger als viertausend Kindern zur Welt verhelfen. Gütig blickten ihre Augen, mild strahlten ihre Züge, ehrbar weiß ischimmerte das Haar, gebückt war der Körper, doch leicht der Schritt. Madame Barometlerin eilte durch die engen Gassen zum Haus der Kindlmutter. Sie kam noch früh genug, um Töpfe voll heißen Wassers und große Leinentücher herzurichten. Frau Josefa Werndl, die Wöchnerin, lag mit glühend heißen Wangen in weiße Daunenkissen gebettet, nach der nicht schweren Geburt. Ein lauter Schrei — und der Zweitgeborene aus der Familie Leopold und Josefa Werndl, ein Bub, viereinhalb Kilogramm schwer, lag krebsrot auf dem Linnen. Madame Barometlerin staunte: ,,Ein schöner Brocken!" — Mancher Schlag fiel auf Rücken und Hinterteil des Neugeborenen, bis der kleine Erdensohn sich entschloß, zu melden, daß er angekommen sei. Das nackte Menschenkindlein brach in ein Geschrei aus, als wollte es weit übers Wieserfeld kundtun: „Hört, ich bin angekommen!" In einen weiß aus^ geschlagenen geflochtenen Weidenkorb wurde das junge Leben gelegt. Der Kindsvater Leopold Werndl, braun war sein Haar und der Bart, kräftig die Gestalt, nervig die Arme, schaffte in der Werkstätte. Auf seiner Stirne stand zu lesen: Ich bin ein Dickschädel. Ich halte ein, was ich von altersher übernommen habe. Bleibt mir weit weg mit Neu= erungen. Ich heiße Leopold Werndl! Ich will nur das tun, was ich für gut halte. Leopold Wemdl, bürgerlicher Bohrerschmiedmeister, Besitzer einer Armaturen«Werkstätte, konnte achtundvier« zig Stunden Eisen schlagen, Stahl biegen, ohne Schlaf oder Müdigkeit zu spüren, konnte am Amboß, am Schraub« stock, an der Feueresse stehen, ohne aufgeregt zu sein. Am Tage aber, da seine geliebte Frau, die ehrsame Meisterin

Josefa ihm sagte: „Jetzt geht'is los", ihre 'Hand dabei auf ihren gesegneten, Körper legte, vor Schmerz in die leinenen Polsterüberzüge biß, da schwand des Meisters Ruhe dahin. Leopold Werndl glühte eine Stange Eisen, schlug mit schwerem Hammer kreuz und quer darauf los. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirne! Ist keine Kleinigkeit für einen Vater, ein Kind zu kriegen! Die Kindlmutter, Frau Josefine, hatte den Schmerz schnell vergessen. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Im weißen Linnen lag ihr müder Körper. Linnen von der „Moam" in Unterhimmel, die nichts anderes in die Fäden spann als die drei Wünsche: Gesundheit, Reinheit, Glück. Die Hände der Geburtshelferin waren vom heißen und kalten Wasser rot. Sie lief in die Werkstätte und rief, die Hände vor den Mund haltend: „Ein Bub ist's!" Meister Leopold Werndl warf das glühende Eisen, rund gebogen, in den mit kaltem Wasser gefüllten Holzbottich. Heißer Dampf stieg hoch. Zischend kühlte das Eisen am Boden des Bottichs. Ein gutes Eisen war es; der Meister hatte ein Hufeisen geschmiedet. Das erste, das er je gefertigt. Ist ein glücksbringendes Zeichen, solch ein Hufeisen. Leopold Werndl jauchzte laut, isodaß alle Gesellen und Lehrlinge für kurze Zeit ihre Arbeit vergaßen. „Leutln", rief Meister Werndl, „heute halt ich euch frei, trinkt vom besten Wein, eßt bis Euch der Bauch platzt und jeder kriegt einen Silbergulden extra auf'n Lohn." — Xaverius, der Lehrling, bohrte mit dem Finger in der Nase und getraute sich die Frage: „Und was ist mit den Lehrbuben?" Meister Leo« pold lachte ein breites, wohltuendes Lachen: „D' Lehr« buhen kriegen einen Fünfz'ger und statt Wein süßen Met." Leopold Werndl's entblößter, behaarter Arm griff in den Holzbottich, zog das Hufeisen heraus, hielt es gegen den Feuerschein der Esse: „Bring dem Buben halt recht viel Glück!" Dreimal wiederholte Vater Wemdl das Wort;

„Glück, Glück, Glückl" Der lederne Schurz fiel steif zut Erde, Die Gesellen und Lehrbuben umstanden ihren Meister. Werndl spürte eine, zwei — viele Tränen auf seh ner Wange. Die Gesellen schüttelten die Köpfe. Der ge» strenge Meister Werndl weinte? Madame Barometlerin konnte die Väter nicht zählen, denen sie die Nachricht vom Neugeborenen überbracht. Aus ihrem schmalen, faltigen, fast zahnloisen Mund kamen die Worte: „Ja, was ist's denn, Herr Meister? Wollen S' Ihnen denn net den jungen Herrn anschau'n?" Die alte Anna Barometlerin sprach die drei Worte: „Den jungen Herrn" feierlich aus. — Meister Werndl fuhr mit den fünf Fingern in sein wirres Kopfhaar: „Ich komm schon, ich komm' schon!" Das Hufeisen in der Hand, stürmte Werndl am großen Senkhammer, an seinen Gesellen, Lehr« lingen, an der Geburtshelferin vorbei. „Ich komm' schon!" Im Türrahmen zur Schlafstube stand er. Die Hände klammerten sich an die schweren, braungestrichenen Holz« pfosten: „Josefa, du bist die beste Frau ich hab ja ge» wüßt, daß du mir wieder einen Buben schenken wirst! Ob« wohl mir ein Dirndl genau so viel Freude gemacht hätt'." — Der glückliche Vater nahte auf Zehenspitzen der Mut« ter: „Bist ein bisserl schmal im Gesicht, aber schön oist! Neben der Mutter lag das Neugeborene im Weidenkorb. „Unser zweiter Bub", flüsterte Josefa. „Willst ihn net an« schau'n?" Vater Werndls Hände, die mit Leichtigkeit einen Eisenblock mit hundert Pfund von einem Platz zum anderen schafften, zitterten, als er seinen Sohn aufhob. „Joisef", stammelte der Vater, „sollst ein guter Mensch wer« den." Ohne ein weiteres Wort an seine Frau zu richten, trug Leopold Werndl seinen Neugeborenen, der mit ge« schlossenen Augen in den ^Vindeln lag, durch die Schlaf« sttibe, durch die Tür, durch das dunkle Vorhaus über hol« zerne Treppen, über den mit groben Steinen gepflasterten

Hof, in die Werkstatt. Die Gesellen und Lehrlinge hielten im Fleiß ein. Der Senkhammer blieb am hölzernen Galgen stecken. Keiner schlug das Eisen. „Kommt her", rief Vater Werndl seinen Gesellen und 'Lehrlingen zu, „schaut her, der da wird später Euer Meister sein!" — Einzeln kamen die Männer mit dem Zeichen der Arbeit auf den Händen und starrten in das kleine Gesicht des Wickelkindes. Der älteste Geselle nahm die vom Feuer rußgeschwärzte Mütze ab: „Glück auf!" Von den Lippen der anderen, von den Alten, Jungen und Jüngsten schallte es: „Glück auf!" Der Gruß der Knappen vom Erzberg klang durch die ruß« geschwärzte Werkstatt des Eisens. Meister Leopold ging zu seiner Esse, trat aufs Holzscheit zum Blasbalg — Wind fuhr in die feurigen Holzkohlen, rotgelbe Feuerzungen flat< terten hoch. Vater Werndl hob seinen Buben empor: „Das ist deine Welt — Feuer, Eisen und Stahl." Mochte es Täu^ schung oder Wahrheit sein, Meister Werndl schien es, als stünden die Auglein seines Neugeborenen weit offen, als spiegelten sich die Feuer lodernd darin. Madame Baromet« lerin, einer ängstlichen Gluckhenne gleich, rang die Hände: „Na, so was, mein Gott! Nur die Mannsbilder können so dumm sein. Alt wie die Kirchentürme, aber zu fürchten wie die Revolution!" Diesen Ausspruch gebrauchte die Alte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Der kleine Josef wurde seiner Mutter übergeben. Meister Leopold ließ den Senkhammer wuchtiger als je auf einen glühenden Eisenblock fallen. — Der Wundarzt und kaiserliche Rat Sebastian Purk'f staller, Spezialist für Gallensteine, kurierte nur mit Natur* ölen und Heilkräutern. Er war bei der Meisterin Josefa zu Besuch. Auch er stellte fest: „Ein schöner Brocken von einem Buben. Und den echten oberösterreichischen Barockschädel hat er auch. Faßt gut zu Euch, Frau Mei* sterin." Sebastian Purkstaller bestellte und verschrieb das

"Wochenbettsüppchen: „Ein Stück vom vier "Wochen alten Kalb, klein geschabt, mit weißem Mehl gestäubt, eine weis# se Semmel hineingequetscht, das Klare vom Ei dazu, ein Stück gelber Butter hineingerührt, ein bißchen Muskat# nuß gerieben, kein Salz, zweimal aufkochen. Und net ver# gessen, Frau Meisterin: Aufgestanden wird erst nach einer "Woche." Frau Josefa lachte. Mit schwacher Stimme, nur für das Ohr des Wundarztes bestimmt, flüsterte sie; „Aber die viele Arbeit bleibt doch liegen." Sebastian Purk# staller brummte, streifte mit beiden Händen seinen Voll« bart. „Die Arbeit soll nur liegen bleiben. Ist noch keine Arbeit von allein davongelaufen. Wie ich gesagt hab', so bleibt's. Eine Woche liegen und warten, bis ich Ihnen das Aufstehen erlaube." Im Nebenzimmer schlief der oft kränkliche? zweijährige Bub, der Leopold. Wie ganz anders der Neugeborene: Kraftvoll der kleine Körper, hell das Auge. Müde, zufrieden mit der Welt, schloß die junge Mutter die Augen und schlummerte in die Glückseligkeit hinein. Der Himmel blitzte voller Sonne, die Schlote qualm# ten schwarzbraunen Rauch. Wildenten flogen mit lautem Flügelschlag über die Christkindler#Au. Hell klangen Eisenblöcke, die vom grobgehölzten Wagen abgeladen A\'urden. In der Eisenstadt Steyr war ein Sohn geboren worden. Der Sohn eines Arbeiters, eines Meisters. Nun nährten sich vier Menschen, die Werndls, vom Eisen, vom Stahl. In Steyr war gute Zeit eingekehrt. Viele Händler fuhren mit Fertigwaren aus der Stadt, viele Fuhrleute brachten grobes, ungeschlagenes, Eisen vom steirischen Erzberg. Geldstücke aus purem Gold geprägt, mit dem Bildnis des Kaisers, klimperten in eisengeschmiedeten Kas# setten. Männer, farbig gekleidet, aus Ungarn, Rumänien, ider Türkei, Rußland und dem fernen Asien, brachten

Gold und Edelsteine für steyrisches Eisens und Stahlzeug. Ein junges Mädchen, schön wie ein Sonnentag, fremd im Wesen, die Haare blauschwarz, die Wangen wachse bleich, ging im gelben Wollkleid, trotz des Schnees, der auf den Höhen der Berge lag, barfuß durch die engen Gassen Steyrs. An einer eisernen Kette führte sie einen zottigen, braunen Bären. Die Fremde wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie kam vom Armeleutespittel. Dort war ihr Beschützer, den sie Vater rief, der sie von Kinds heit auf begleitete, ihr das Essen gegeben hatte), auf eine Strohschütte gelegt worden. Er stand nimmer auf. Das Mädchen verlor ihren Begleiter, ihren Beschützer. Zur Stunde, als die Sonne vom Himmel drängte, verstarb Jeremias, der Bärenführer, von dem niemand wußte, weis chen Eigennamen er trug, wieviel Jahre er zählte. Jeremias gab seinen Geist auf, ohne den Strahl des neuen Tages gesehen zu haben. Die Bresthaften, Kranken, tuschelten im Armeleutespittel: ,,Er hat die Fest gehabt, die Cholera oder gar den Aussatzl Wer war der Tote?" Die hohe Obrigkeit wurde verständigt. Der ehemalige Soldat, ders zeit Stadtwächter, Kajetan Gföller — seine Uniform zeigte mehr Schmutzflecken alsi Reinheit — fragte, die Hand ges wichtig auf seinen messingbeschlagenen Säbel stützend, die Fremde: „Wer bist du?" Das Mädchen besaß kein Auiss weispapier. Kajetan Gföller zeigte auf den Verstorbenen: ,,Ist das dein Vater?" Die Fremde schüttelte verneinend den Kopf. „Wer bist du, schwarze Hexe?" fragte erneut der Stadtpolizist ärgerlich. „Nina". Nur das Wort kam über ihre Lippen. ,,Wieso heißt du Nina?" Die Fremde schüttelte abermals den Kopf. Kajetan Gföller zwirbelte die Enden seines weißgrauen, grünlich schimmernden struppigen Schnauzbartes. Nina setzte sich auf die Stein« stiege, die zur Einlaßpforte des Spitteis führte und sann vor sich hin. Weit fort waren ihre Gedanken.

Ein Land ohne Berge breitete sich vor Ninas Augen aus. Viele Pferde, weiße, braune, schwarze, Falben und Schecken stehen, grasen auf unendlich weiten Wiesen, zie» hen, wenn die Sonne sich vom Tag trennt, den Wassern zu, Stuten wälzen sich am Boden, werfen ihr Fohlen, Pferdehirten in weißen, breiten Hosen, vielfarbig bestick« ten Westen, schwarzen Hüten, reiten auf edlen, ungesatteh ten Tieren, der großen Herde folgend, vom Osten nach Westen, Zottige Hunde, Wollknäueln gleichend, kläffen freudig hinter den Pferden her. Aus tiefgegrabenen Brun« nen wird mit hölzernen Eimern Wasser gehoben. In kleinen Hütten hausen die Hirten, kochen in kupfernen Kesseln scharfgewürzte Speisen, drehen auf eisernen Spießen über glühenden Holzkohlen gehäutete Lämmer, Der jüngste dieser Hirten bestreicht das zum Braten bestimmte Lamm« fleisch immerfort mit frischer Butter, Unzählige Ochsen, Stiere, Kühe, Kälber, schlank gewachsen, mit schmalen Fesseln über den Hufen, mit langen, breit ausholenden Hörnern, stehen still in der abendlichen Dämmerung, Die Sonne flieht, läßt sich durch nichts aufhalten, Störche und Reiher fliegen den Wassern zu, Ungarn heißt dieses Land, Dort weilten Nina, Jeremiajs und Bombo, der Bär. Zigeuner trafen sich aus allen Ländern, um einen König zu beerdigen, den sie selbst gewählt hatten, „Kral nann« ten sie ihn, Kral den XVI. Tausend Zigeuner und mehr, entblößten Hauptes, die schwarzen Haare in Fett getaucht, daß sie in der Sonne glänzten, die Fiedel unter dem Hals, den Bogen darüber streichend, spielten ihrem toten Zi« geunerkönig Lustiges und Trauriges. Das Zigeunerwelsch klang laut und leise, klagend und freudig. Ein König der Zigeuner wurde zu Grabe getra« geh. Viele Zigeuner, aus allen Ländern, wo sie ruhelos wanderten, hatten sich aufgemacht, dem toten König das letzte Geleit zu geben. Alles Gold, das die Zigeuner Hun«

derte von Jahren vergraben hielten, stellten sie an diesem Tage zur Schau. Golden war der Sarg, golden die Kleii^ duiig des toten Königs, golden die Krone. Als die mitter» nächtliche Stunde schlug, stoben die Zigeuner in alle Welt» richtungen wieder auseinander. Sie würden schwieigen, niemandem sagen, an welcher Stelle sie ihren toten König in die Erde gebettet haben. Nina mußte weiter zurückdenken, viel weiter. Jere» mias wanderte mit Bombo, mit Nina, mit einem Esel, einem Papagei, einem Kakadu, zwei Schlangen, denen er die Giftzähne genommen, nach Anatolien, nach Rußland. Es waren schöne und traurige Tage, heiße und kalte. Tage der Freiheit und der Gefangenschaft. Eine Mutter kannte Nina nie. Jeremias stand als erster Mensch von Bedeutung in ihrem 'Leben. An seinem weißen Bart spielte das Kind, an seinem weißen Bart weinte das Mädchen. „Was ge» Stern war ist nicht gut", sagte Jeremias oft, „morgen wird ein guter Tag sein." Bombo, der Bär, wie alt er war, wußte niemand, konnte tanzen, konnte die Pfoten zum Gebet ineinander legen, konnte gewichtig mit dem Kopfe nicken. Nina sang dann ihre Lieder. In welcher Sprache sie sang, wußte sie nicht. Viele solcher Lieder hatte Nina an den Lagerfeuern der wandernden Gaukler in der weiten Ferne gelernt. Sie sang sie mit tiefer und heller Stimme. Ob in der Glut der Sonne, ob in der Kälte des Eises. Die Lieder blieben gleich. Bombo stampfte mit seinen festen Pfoten den Takt zu den Melodien. Ach, das war ein schö» nes Leben. Bombo zerrte an der Kette. Bombo riß Nina aus ihrem Traum. „Wer ist der alte Mann?" schrie Kajetan Gföller und zeigte auf den toten Jeremias. Ein Stein splitterte die Tür. Bombo, der Bär, schnupperte, mühte sich, auf die Hinter» füße hochzukommen, brüllte auf. Bombo nahm den Stein zwischen die Pfoten, leckte mit der Zunge daran. Der

Stein war nicht zu essen. Bombo ließ ihn fallen. Kleine und größere Steine, handgroße, hagelten auf Bombo und Nina. Geschrei von Kindern und alten Weibern klang auf: „Schlagt sie tot, die Hexe, schlagt sie tot, die Hexe!" Der Polizist Kajetan Gföller wußte, wer die Steine warf: Die Insassen vom Armeleutespittel, die Buben von der Straße. Das Gesindel, die Scherenschleiferischen, die im* mer dort sind, wo es eine schaurige Mär weiterzutragen gibt. Wortfetzen wie Cholera, Pest, Aussatz, hagelten hinter den Steinen her. Kajetan Gföller, ein alter Krieger vor Gott und der Welt, verdiente sich seinen Alterssold als Stadtbüttel. Er war froh darüber, denn er verstand we« der zu lesen noch zu schreiben und konnte seine Unter« Schrift nur mit dem Daumen auf das Papier drücken. So wußte er nicht, wie er sich in diesem Falle verhalten sollte. Der Tote wurde nicht wieder lebendig. Aus der Zigeune» rin konnte er kein Wort herauskriegen. Was sollte er tun? Die Herren bei seiner vorgesetzten Behörde würden froh sein, wenn er mit keiner Anzeige käme. Jede Anzeige brachte neue Arbeit mit sich. Kajetan Gföller überlegte: Zuerst würde er die alten Weiber, die Scherenschleiferi« sehen, die halbwüchsigen Buben davonjagen, dann Nina mit dem Bären fortschicken. Wohin sie ging, war ihm gleichgültig. Wäre ja noch schöner?, wenn fremde Leute ihm und seiner Behörde Scherereien bereiteten! Kajetan Gföller rollte wild die Augen, sein Schnauzbart stand ab> wehrend auf Sturm. Kriegerisch verkörperte der alte Sol« dat die hohe Obrigkeit. Mit Donnerstimme brüllte er: „Weg da, ihr Bagage! Aber schnell, sonst sperr' ich Euch in den Kotter!" Die Buben, die Scherenschleiferischen, die alten Weiber und Nichtstuer, die Tratsch« und Klatsch'« suchenden, zerstreuten sich schnell, hinkten davon, schlüpften in die schmalen, niedrigen Haustore, in die fast lichtlosen Höfe, in die steingebauten Geschäftsge«

wölbe, erzählten tuschelnd, die Hand vor den Mund hal» tend, damit es geheimnisvoller klinge, was sie gehört: Aus dem Morgenland war ein Weißbärtiger mit einer Sklavin und einem Bären gekommen. Vielleicht einer von den Heiligen Drei Königen? Vielleicht waren die übrigen von den Heiden im Morgenland überfallen worden? Die anderen erzählten wieder, ein Zauberer sei 's gewesen. Aus einem türkischen Harem hätte er die Lieblingsfrau eines Sultans geraubt. Drei Augen sollte die Sklavin im Gesicht gehabt haben. Die Sprache sei arabisch. Von Fen« ster zu Fenster, von Tür zu Tür, von Hof zu Hof, beim Wäscheaufhängen, unten an der Steyr, beim Wäsche« scdiwemmen, bei Fleischer, Bäcker, Schuster, Schneider, bei der Putzmacherin — überall sprach man von Jeremias, von Nina und von Bombo. Viele Arbeiter ließen eine Stunde lang die Arbeit ruhen. Jeremias, Bombo und Nina machten die Bewohner von Steyr vergessen, daß dem Meister des Eisens, Leopold Werndl, Wieserfeld 44 ein zweiter Sohn geboren wurde, dem die Geburtshelferin, Madame Anna Barometlerin, das Prädikat „Herr" zuge« sprochen, daß die Gesellen den Knappenruf „Glück auf" nicht in Demut und falscher Dienstfertigkeit, sondern mit froher, frischer Stimme, ja offenen Blickes, dem Meister« söhn zugerufen hatten. Kajetan Gföller wußte nichts von der Geburt des Josef Wemdl. Ihn kümmerte nur die leidige Angelegen« heit der Zigeunerin Nina mit ihrem Bären. Der Polizei^ Soldat hatte nicht viel zu verschenken. Einen kargen Sold heimste er monatlich ein. Trotzdem griff er in die Hosen« tasche, zog ein paar Kupfermünzen heraus und drückte sie Nina in die Hand: „Nimm und geh' zum Teufel", sagte er dazu. Kajetan Gföller spielte den Wohltäter. Er war nicht dumm, der gute Kajetan. Er wußte: wo kein Kläger ist, da gibt es auch keinen Richter. Niemand, nicht 2 Kernmayr, Werndl

einmal sein oberster Vorgesetzter würde fragen. Schon im Volksmund hieß es: Wer viel fragt, geht weit irr. Nina riß ihre sternengleichen schwarzen Augen weit auf und Keß die Kupfermünzen zu Boden fallen. Kupfer glänzte nicht. Die Spitalschwestern, Schwestern vom heiligen Vinzenz und Paulus, in ihren großen), steif gestärkten Hauben, kamen dahergelaufen, wuschen den Toten mit lauwarmem Essigwasser, packten für Nina weißes, flau^ miges Brot, ein Stück Ziegenkäse, ein Stück hartes Rauch« fleisch in rauhes Sackleinen, wünschten ihr das ewige Licht, schlugen das Kreuz über die Davonziehenden. Schwester Oberin Bonifazia, der die Güte in den Augen stand, brachte für Bombo eine Scheibe Honig. Eine zier« liehe, kaum zwanzigjährige Novize gab dem Bären brau« nen Kandiszucker. Bombo schüttelte sich, daß die gute Novize erschreckt davonlief. Bombo, sonst ein Lecker« maul, verschmähte die Honigwabe, verschmähte den braungebrannten Zucker, fletschte die Zähne. Die junge Novize, das kleine Gottesküken, fiel in die Knie, ihr zit« terten die Füße. „Der Leibhaftige"stammelte sie erschrok« ken. Nina kümmerte sich um nichts, nicht um die Kloster« schwester«Novize, nicht um Kajetan Gföller, der ein gutes Werk glaubte getan zu haben und diese Handlung mit einem großen Schluck aus der Schnapsflasche abschloß. Nina trottete dahin, durch die engen Gassen, im Her« zen ihren toten Freund Jeremias, an der Kette Bombo. Wohin sollten ihre Füße, wohin Bombos Pfoten sich wenden? Leopold Wemdl stand vor seinem Haus und blinzelte in die Sonne. Sind Fastnachtsleute unterwegs? kam es ihm in den Sinn. Nina, den Bären an der Kette, kam ins Wie« serfeld. „Wohin des Weges?" fragte der Meister. Er hatte

allen Grund, gut gelaunt zu sein. Drinnen im Wochenbett schlief seine Frau in die Gesundheit, in der Wiege sein Neugeborener in das 'Leben. Nina verstand die Sprache Leopold Wemdls nicht. Müde war ihr Körper, müde ihr Sinn, Ohnmacht überfiel sie. Einem Sack gleich sank die Zigeunerin zu Boden. Aus den tiefliegenden schwarzen Augen sickerten Tränen über die bleichen Wangen. Leo# pold Werndl, dem das Glück hold war, der immer ein gutes Herz und eine mildtätige Hand hatte, ließ der Un# glücklichen Essen und Trinken reichen, ihr ein Dach über dem Kopf geben, Decken für die Nacht bereithalten, Stroh als Lager aufschütten. Bombo, der Bär, als spürte er, daß gute Menschen sich um Nina mühten, ließ sich willig in den Holzverschlag führen, schlürfte zaghaft warme Milch, die im Napf ihm gereicht wurde, schnupperte am weißen Brot, schüttelte den Kopf, als wollte er künden: In diesem meinem Leben will ich nichts mehr essen, nichts mehr trinken! Jeremias, mein Herr, ist von mir gegangen! Wind und Kälte konnten Nina und Bombo nichts mehr anhaben. Die Türen und die Fenster waren isorgsam mit Moos ausgestopft. Bombo krümmte sich, einer Kugel gleich, zusammen. Nina lag offenen Auges und starrte in die Dämmerung, in die Finsternis, in die Nacht. Der Wundarzt und kaiserliche Rat Sebastian Purk# staller erschrak, als er des Mädchens fliegenden Puls prüfte. Kurzerhand ließ er aus Ninas Körper dunkles, heißes Blut in eine Tonschüssel fließen. Aus einundzwan# zig Kräutern und Wurzeln ließ er einen Trank brauen. Purkstaller selber gab zu, daß es ein fatst ungenießbares Gesöff sei. Er wußte aber; wer von diesem Tee trank, der würde wieder zu Kräften kommen. In kleinen Schlucken soUte Nina den kräftebringenden Tee zu sich nehmen. Ihre Zähne lagen wie im Starrkrampf fest übereinander. Mit einem glatten Holzstück mußten sie auseinandergedrängt

werden. In kleinen Schlucken trank Nina endlich wider.» wilhg. Nach Stunden, der Mond stand als gelbe Scheibe am Himmel, rief sie laut in die Nacht. Eisi waren Worte, die keiner der Helfenden verstand. Am sechsten Tage brüllte Bombo zum Fürchten. Der erste Hahn tat seinen Schrei. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Nina schnellte vom Lager hoch, ihre Augen lagen tief in schwarzen Höhlen, ihre W^angen hatten die Farbe weißer Totenkerzen. Ihre Lippen winselten: „Bombo, Bombo!" Das Tier lag ohne Atem, ohne Pulsschlag im Winkel. Tag um Tag verging, das Mädchen geisundete, wurde kräftiger, schöner. Eines Morgens, vier Tage von Josefs Taufe, die im Hause festlich begangen werden isiollte, Frau Josefa hielt mit sorgender Hand den iNeugeborenen an ihre pralle Brust, stand Nina im Türrahmen, das schwarze Haar einer Königskrone gleich um den Kopf gelegt, das gelbe Kleid gewaschen, geplättet, die Füße in wollenen roten Strümpfen und groben Ledersandalen, in der Hand hielt sie gebündelt ihr weniges Hab und Gut. Vor der stillenden Mutter beugte die Fremde ihr Knie. Die ersten Worte waren es, die Nina sprach. Keiner, nicht von der Obrigkeit, nicht von den Hauisleuten bei Werndl, nicht die schwarzgerußten Gesellen und Lehrlinge, die Nina wie ein Wunder bestaunten, hatten sie je sprechen hören. Schwer nur fand sie die wenigen Worte: ,,Muter, ver< gelt's Gott bis hinauf im Himmel —" Nina wiesi mit ihrer Hand auf den Säugling. „Wird sein ein König, junger Herr^, hat guten Stern —" Behutsam, damit die stillende Mutter sich nicht erschrecke, beugte sich die Zigeunerin zur Erde. Mit ihren schlanken Fingern hob sie den Saum des Kleides der Frau Josefa und drückte dankbar die Lippen darauf. „Madonna", hauchte das Mädchen. Hell glänzten die Augen der Fortgehenden. Einen Atemzug

blieb Nina, bevor tsie die Stube verließ, stehen: „Wird sein ein König, junger Herr — Bombe, der Bär, wurde vom Schinder^ und Abdeckerss meister Pankraz Hochkraxl auf einem kleinen hölzernen Abdeckerwagen, vor dem zwei kälbergroße Bluthunde, Beißan und Fangan, gespannt waren, geholt. Das Aussehen dieser dunkelgrauen, zähnefletschend« den, von Blut, Fleisch und vielen Knochen genährten Hun-« den mußten jeden, dem sie begegneten, mit Angst erfüllen. Aber die Hunde waren gutmütig und folgsam. Als man den toten Bombo auf das Wägelchen lud, sträubten sich die Haare auf den Rücken von Beißan und Fangan. Sie hielten den Schwanz zwischen den Hinterbeinen einge# zwängt. Pankraz Hochkraxl freute sich über diese seltene Last. Das Fleisch des Bären würde er vergraben, den Kopf in siedendem Wasser so lange kochen, bis kein Stückchen Fleisch, keine Falser mehr an den Knochen haf=« tete. Schädel von Ochsen, Stier, Kuh, Kalb, Schwein, Schaf, Pferd, Fisch, Hase, Hinsch, Reh, Katze und anderem Getier hingen in seiner Stube an der weißen, kalkigen Mauer. Das Bärenfell behielt er. Es (sollte gut gegen das Zwicken in den Gliedern sein. Das Fell des Bären gab ein weiches Lager. Der Gerbermeister würde ihm ver^ raten müssen, wie man Bärenfell bearbeitet, damit die Haare nicht ausgehen und kein Ungeziefer sich darin ein« nistet. Mit den Worten: „Hühott, Beißan, Hühott, Fan« ganl" trieb er die Hunde vor dem Wägelchen dem Schind« anger zu. An einem Sonntag wurde die Taufe des Zweitgebo« renen im Hause Wieserfeld Nr. 44 als festliches Ereig« nis begangen. Die stattliche Zahl der Verwandten von Frau Josefa, von Vater Leopold, kamen aus Stadt und Land. Es ist immer schön, wenn man einen Anlaß hat, sich mehr als gewöhnlich in den Bauch zu stopfen, mehr

als gewöhnlich Bier und Wein in den Rachen zu schütten, so dachten sie. Ein Tauftag ist ein Fest und an Fest* tagen kann man wanken und trunken zur Erde stürzen, ohne daß die bösen Menschen darüber schlecht sprechen. Dem Meister Leopold Werndl kam nicht der Gedanke, die Taufe seines Josef großmächtig zu feiern. Er gab aber seiner glücklichen Josefa nach, die ihren Verwandten zek gen wollte, welch gesundes Kind sie zur Welt gebracht hatte, in welchem handwerklichen Wohlstand sie lebte. Jedem, der es hören wollte, erzählte die stolze Mutter von den bedeutsamen Worten, die die Zigeunerin dem kleinen Josef zugesprochen hatte. Viele Dinge gingen am Tauftage vor sich, die der kleine Josef in seinem blauen Seidensteckkissen nicht verstand. Die Taufpaten, Gevat* terleute genannt, der Herr God und die Frau Godl, fest* lieh gekleidet, mit der Würde: „Wir sind wer und wir haben was", waren gerne gekommen. Die Aufforderung, den Neugeborenen des Leopold und der Josefa Wemdl aus der Taufe zu heben, bedeutete eine Ehre für sie. Altes gutes Brauchtum wurde eingehalten. Dem kleinen Josef schenkte man ein Geldstück, das, er jedoch nicht behalten durfte. Der Kindesvater gab die Goldmünze so* fort einem Bettler weiter, das sollte bedeuten: Das Gold kommt nur dann inis Haus, wenn es wieder den Armen zufließt. Dann wurde ein buntfarbiger Kalender ins höl* zeme Badeschiff geworfen, damit der kleine Josef mit Klugheit beschlagen würde. Das Badewasser schütteten die Gevattersleute im kleinen Gärtlein an einen Apfel* bäum. Verdorrte im Frühjahr der Baum, so würde dem kleinen Josef kein langes Leben beschert sein. Blühte der Apfelbaum im Frühjahr, dann mochte den Josef ein Greisenalter erwarten. Drei Bröcklein Brot, drei kupferne Kreuzer und drei Falmnudl, sammetweiche Weidenkätz* chen, legte man in Klein^Josefs Windeln. Die Gevatters*

leute schritten feierlich mit Madame Barometlerin, die den Täufling wie ein Ordenskissen vor sich hertrug, in die Kirche zu Sankt Michael, Steyr Vorstadt, zur Taufe. Die Gesellen, Lehrbuben, die Freunde aus der Nachbaristadt knallten ihre Büchsen los, daß allen Hören und Sehen verging. Mathilde, die Köchin und zwei Weiberleute aus der Nachbarschaft, hatten alle Hände voll zu tun, um das Taufessen fertigzustellen. Ein kräftiger Speisezettel war es. Obenan Istand die Suppe, gekocht von sieben Kilo Tafel« und Kruspelspitz, zwei Kilo von der Rippe und einem Kilo vom Brustkern, all das von einem zweijähri« gen, mit Mais, Gerste, Heu und Grünfutter gemästeten Ochsen. Unter keinen Umständen durfte die Suppe lange aufwallen. Viel Petersilienwurzeln und Kräuter, Sellerie, Zwiebelschalen, Mohrrüben und ein kleines Endchen vom Safranblatt, gesundheitshalber auch eine Zehe Knoblauch, wurde mit dem Fleisch gekocht, es förderte die Verdau« ung und erhöhte den Appetit. Frau Mathilde hatte große Mühe, sich der Schweißperlen auf der Stirne zu erwehren. In einem gewaltigen Steingutweitling vermengte sie die Zutaten zu Leberknödeln: Drei Kilo geschabte Leber vom Kalb und Schwein, zehn in Milch geweichte Semmeln, sechs frische Eier. Zwischen den Handflächen rieb sie trockenen Majoran, dazu Salz, ein Häuptel Zwiebel fein gehackt, etwals zerdrückter Knoblauch, ein bißchen Mus« katnuß, zwei Gewürznelken. Mathilde modellierte den gerührten Brei aus Leber, Semmeln und Gewürzen zu schönen runden Kugeln. Ob sechs Stück von den Knö« dein für jeden Gast genügten? Mathilde wußte, eine Leberknödelsuppe bedeutet eine gute Unterlage für jedes Festessen. Zum unterspickten und mageren, butterweich gekochten Rindfleisch, das beim Essen auf der Zunge zer« rinnen soll, gab es für jeglichen Geschmack verschiedene

Zutaten: Süß i» sauern Essigkren mit geriebenen Äpfeln, eine süß^säuerliche Paradeissauce, hellbraun gebrannte Erd« äpfelsauce, süß^saures Kraut nach steirischer Art mit Kümi» mel, kalte rote Rüben mild eingelegt, kleine Gurken aus Znaim, weiße Bohnen in Essig und Öl, mit dünn geringel« ten Zwiebeln versehen. Nach dem Rindfleisch folgte zweierlei Braten. Vom Kalb die saftigen Koteletts mit Niere bis zum Schlögel, vom Schwein zwei mächtige Schinken, mit kaum einem halben Finger Speck darauf. Die Schwarten auf den Schinken kreuz und quer einge* schnitten, mit Salz, Kümmel und wenig Knoblauch einge» rieben. Große, scharfgeschliffene Messer, Erzeugnisse der altberühmten Liebfrauenzeche der Messereizunft in Steyr, dazu lange, zweizackige Gabeln lagen zum Schneiden und Stechen bereit. Acht Gänse, einjährig, nur mit Gerste und Mais, in den letzten Wochen mit Weißbrot geschoppt, in enge Ställe gesperrt, damit ihnen die Bewegung nicht das Fett nehme, lagen nun braungebrannt bruzelnd auf dem Rücken in eisernen, fettglitzemden Pfannen. Durch dals 'Haus duftete der Geruch von Braten, Gewürzen, Süßigkeiten, von Met und Honig. Die Krönung des Fest« essens sollte die riesengroße Linzertorte \sein. In barocken Schnörkeln lagen die dünnen Tortengitter verschlungen auf dem süß gebackenen Teig. In einer braunen weitbauchigen Schüslstel wartete dicker, gelblich schimmernder Rahm. Später zum Milchkaffee sollte die Fettmilch zu Schaum geschlagen werden. Grüne Salatblätter in feinsten ölen, mit Zitronen und Wein vermengt, wurden aufgetragen. Eingemachte Apfel, Birnen, Zwetschken, Pfirsiche, Kir« sehen, Weichsein, rote und schwarze Beeren prangten in leuchtender Farbe in kristallenen Schalen. Orangen, Man* 'darinen, Nüsse lagen in istrohgeflochtenen runden Kör« ben, Weißä. imd Schwarzbrote, frisch gebacken, ruhten neben einem wagenradgroßen Laib Käse rmd warteten aufs

Anschneiden. Im halbdunklen Keller standen große Ton» gefäße voll duftendem "Wein aus dem Straßertal, im Holz» faß schwarzes Bier. In grünen Fünfliterflaschen gluckste weißer Kranabitter und Zwetschkenschnaps für die Man» ner, in kleinen runden Flächen rann träge Nuß» und Bimlikör für die Frauen. Mutter Werndl hatte an diesem Tag ihre Schränke weit geöffnet, reinsten Damast zum Decken der Tische herausgegeben, silberne Messer, Gabeln, Löffel, kostbares Porzellan. Es war ein heißer Tag, fast zu heiß und zu schwül für einen "Vorfrühlings,tag. Die Verwandten und Festgäste schauten ängstlich gegen den Himmel, an dem ein Gewit» ter aufzog. Die Gevatterleute, von der Kirche zurückge» kehrt, waren um ihren Täufling und um Mutter Wemdl sehr besorgt. Dieses Besorgtsein istand ihnen an erster Stelle zu. Ein alter Brauch verlangte, daß die "Wöchnerin^ bevor sie zu Bett ging, von den Gevatterleuten nieder» gesegnet würde. Mit der brennenden "Wachskerze in der Hand schloß man feierlich den Kreis um die Kindes» mutter. Hundertein Stück Eier, fünf Kilo Schmalz und eine lebende schwarze Henne bekam der kleine Josef von den Gevatterleuten als „Vorweiset" geischenkt. Vater Leopold köpfte die schwarze Henne eigenhändig, ehe sie Gelegen» heit fände, im Hause Futter zu finden. Wurde doch sonst der Täufling später ein Dieb, so meinte der Volksglaube. In dieses Tauffest — alles war in guter Laune, ge» hobener Stimmung, es wurde gelacht und gescherzt, die Gesellen und Lehrlinge hatten eis sich in der Werkstatt bequem gemacht, sie bekamen das gleiche Essen wie die Herrenleute — drang der Schreckensruf; „Feuriol Feuriol" Hastende Menschen, zuerst um der Neugierde willen, " dann aber um Hilfsbereitschaft zu zeigen, erzählten, im Ennsdorf sei Feuer ausgebrochen. Ein altes Gesetz in der

ehrwürdigen Eisenstadt Steyr gebot, daß bei Wasser« und Feuersnot alles, was kreucht und fleucht, nicht lahm und bresthaft ist, zur Unglücksisitelle eilt, um dort zu helfen, zu retten, was noch zu retten ist. Die Bäuche der Festgäste im Hause Wiäserfeld Nr. 44 waren von dem vielen Genossenen prall gefüllt, die Köpfe von Bier und Wein und scharfem Schnaps sehr benom« men. Aber der Ruf; „Feurio! Feurio!" ließ iMattheit und Berauschtheit mit einem Schlage vergessen. Ohne Hut, ohne Stock, ohne vollgepackte „Bescheidtüchel" ver« ließen die Männer die reiche Tafel, nahmen kaum Ab« schied von der Hausfrau, vom Täufling. Meister Teopold Werndl an der Spitze, hinter ihm seine Gesellen, Lehr« linge, Knechte, liefen der Brandstätte zu. Auis allen Häu« sern stürmten Männer, Burschen, Knaben. Feuerwehrleute rollten die Wagen mit Wasserbottichen durch die holpri« gen, löcherreichen Gassen und über die hölzernen Brük« ken. Die Sonne war, all» ob sie abgeschossen sei, vom Himmel verschwunden. Schwarze Wolken zogen auf. Vom Daneberg her drängte der Föhn heran. Viele Häuser im Ennsdorf, im Ortl und in der Stadt standen schon in Flammen. Um Mitternacht loderten die Flammen auch zur Styraburg hinan. Die Obrigkeit, an der Spitze der Bürger« meister, die Räte, hielten die Hände nicht in den Taschen, sondern griffen rüstig zu, retteten, halfen, liefen mit den Holzkübeln zu den Wasserbottichen. Viele Stunden datv erte es, bis in den grauenden Morgen hinein, ehe die Häu« ser, die um den schauerlichen Brandherd lagen, außer Ge« fahr waren. Lärmendes Gelschrei klang auf. Verletzte, Ob« dachlose jeden Alters, Männlein und Weiblein, lamenties« ten zu Recht und zu Unrecht. • Leopold Werndl half, legte Hand an, wo er gebraucht wurde. Sein sonntägliches Gewand strotzte von verbrann« ten Löchern. Das weiße, feingestärkte und gefaltete Hemd

war zerrissen, Bart und Kopfhaare versengt, die schwieli« gen Hände voll kleiner Brandblasen. „Ist ein bisserl viel Feuer für die Tauf von dein' Buben", stänkerte ein Kon« kurrent, der dem Leopold Werndl seinen Fleiß, seinen Er« folg und (seinen Buben nicht gönnte. Die Köchin Mathilde kämpfte statt mit Schweißperlen auf der Stirne mit Tränen in den Augen. Sie schäumte vor Wut, daß nun viele von den herrlichen Gerichten zusam« mengetragen in der großen, luftigen Speisekammer stan« den. Von der Linzertorte, vom Schlagrahm, vom Kaffee, von den kandierten Früchten war nichts angerührt worden. Mutter Josefa hatte ihren kleinen Sprößling in feste Windeln, gedreht, in die Wiege gelegt, ein Liedchen ge« sungen. Bis ins Haus Wieserfeld Nr. 44 leuchtete das Feuer von den brennenden Dachfirsten, klangen die Schreie der LFnglücklichen. Das Neugeborene fand den Schlaf nicht. Frau Josefa ging durch alle Stuben und Kam« mem, stieg hinauf in den Trockendachboden, hinunter in den kühlen Keller, sah nach, ob kein Feuerfunke sich hie« her verflogen hatte. Was sollte Mutter Josefa vom heuti« gen Tag denken? Mit Sonne und Freude hatte er begon« nen, mit Unglück und Wehklagen geendet. Vater Leopold Werndl kühlte die vielen kleinen Brandwunden mit Salbe. Der Wundarzt Sebastian Purk« staller hatte alle Hände voll zu tun. Es gab Brüche, Haut« abschürfungen schlimmster Art, Brandwunden aller Grade. Der akademische Doktor Severin Hölzler, er hatte die hohe Schule zu Prag und Wien beisucht, war Doktor der Medizin und Chirurgie, stand dem Wundarzt und kaiserlichen Rat treu zur Seite. Sebastian Purkstaller besaß den Doktorgrad nicht, hatte aber als Feldscher seine Wundarztbeistellung aus den Händen des Kaisers auf dem

Schlachtfeld bekommen. Den Titel kaiserlicher Rat holte er sich, als er dem Kaiser das Fieber nahm. Die Menschen in der Stadt Steyr, ob jung, ob alt, konnten in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Dafür wurde viel dummes, gruseliges Zeug geredet. Eine Hexe sollte auf einem Blitz aus den schwarzen Wolken gesprun» gen sein und das Feuer in der Langengasse gelegt haben. Andere hatten alte Weiber aus der Enns steigen sehen mit schwefelgelben Haaren. Schwefelgeruch sei von der Enns aufgestiegen. Ein alter Krieger, er trug drei blinkende runde Medaillen auf Bändchen gezogen an seinem abge« tragenen, verschnürten weißen Waffenrock, hatte aus vie« len Schlachten Narben als Andenken nach Hause ge<= bracht, wollte einen dürren, klappernden Rappen geisehen haben, darauf ein Reiter mit einem schwarzen, flatternden Mantel gesessen hätte. Mit ängstlicher Stimme erzählte der alte Veteran, der Reiter sei kein Mensch, sondern Gevatter Tod persönlich gewesen. Er habe den Totenkopf, die knös eherne Hand und die Sense deutlich erblickt. Sachlich stellte der Bürgermeister fest, der Messerer Strahaschek hatte verbotenerweise in .seiner Wohnung eine Feueresse unterhalten. Aus dem offenen Feuer seien Funken in leicht brennbare Gegenstände geflogen, die das Bräuhaus in Brand steckten. Die Feuerpolizeibehörde würde eine neue Verordnung herausgeben. Die Messerer dürften ihre Klingen, Hieb« und Stichwaffen in Zukunft nur in ziegek und steingebauten Gewölben und Werkstät* ten herstellen. Vom Zeitpunkt Josef Werndls Tauftag an, vergingen die Jahre nicht langsamer, nicht schneller wie ehedem. Der Frühling wurde vom Sommer, der Sommer vom Herbst, der Herbst vom Winter abgelöst. Die Gehilfen in Werndls Werkstatt mehrten sich, aus den Lehrlingen eiv

wuchsen Gesellen. Am Himmel verblaßten die Sterne, die Sonne stieg jeden Tag im Osten auf, um im Westen unter» zugehen. Sonne, Hitze, Regen, Kälte, Schnee wechselten in vorgeschriebenem Lauf. Der kleine Josef Wemdl hörte in den Jaliren acht» zehnhundertdreiunddreißig und) achtzehnhundertvierund» dreißig öfter den Ruf; „Feurio! Feurio!" in Steyrdorf und Wieserfeld. Die Sturmglocken zu St. Michael riefen die Tatkräftigen, Hilfsbereiten aus den Betten. Manch Opfer blieb auf der Brandstätte. Dem vierjährigen Joisef fehlte jeder Sinn für die Trauerfeier in der großen Kirche zu Steyr, zu der er von seinen Eltern mitgenommen wurde. Menschen, sonst lustig und frohen Mutes, standen schwarz gekleidet in der hohen, kalten Kirche, beteten, hielten die Hände gefaltet, verzogen die ernsten Gesichter zu keinem Lachen. Josef wußte nichts von einem Kaiser Franz dem Zweiten, der sich, nachdem er dreiundvierzig Jahre lang Szepter xmd Reichs» apfel zum Wohle der Habsburger Dynastie in österreichi» sehen Landen in Händen gehalten hatte, müde in sein Bett legte, die Augen für immer schloß. Josef, Sohn des Arma» tur»Werkstättenbesitzer Leopold Werndl ahnte nicht, daß dieser verstorbene Kaiser zu Lebzeiten viel Ungemach er» tragen mußte, nicht, daß unter Franz dem Zweiten der Konservatismus seine höchste Blütezeit erlebte. Franz der Zweite verschacherte seine Tochter Luise dem Franzosen» kaiser, dem großen Napoleon. Franz der Zweite brach seinem Schwiegersohn Napoleon die Treue sofort, als jener das Glück und die Liebe seiner Untertanen nicht mehr besaß und in die Verbannung nach Helena geschickt wurde. Unter Franz dem Zweiten tanzte man auf dem Kongreß in Wien, bis man aUe politischen Ränke und Schachzüge unter Dach und Fach gebracht hatte. — Fürst Metternich führte unter Franz dem Zweiten das große

Wort, hielt die europäischen Souveräne am Gängelbande. Metternich beauftragte die Hausmeister von Wien, alles, was sie sahen und hörten, der Polizei zu melden. Auf die öffentliche Meinung des Volkes verzichteten Franz der Zweite, Metternich und der Staatsrat. Am zweiten März achtzehnhundertfünfunddreißig starb Kaiser Franz der Zweite. Ein neuer Habsburger war zur Stelle, Adel, Mili« tär und Volk beugten die Knie vor Ferdinand dem Ersten. Jahre sind vergangen. Elf Jahre zählte der Junge, als die Vorstadt Steyrdorf fast zur Gänze abbrannte. Im Jahre achtzehnhundertzweiundvierzig geschah es. Die Häuser und Hütten vieler Arbeitenden, besonders der Messerer, Wurden bei diesem Brande am dritten Mai vernichtet. Aus dem Süden raste der Sturm heran, Jahrmarkt war, die Stadt voller Hütten und Schenken. Die Sturmglocken schrieen: „Feuer in Steyrdorf 1" An der Sierningerstraße im Lebzelterhaus schlug das Feuer hohe Flammen, biß sich in rascher Wut in die Häuser. Der Wind hob das Feuer über die Dächer. Die Stadtbauernhöfe Stadlmayr und Miesreithner standen hell in Flammen. Einem Meer von Licht glich Steyrdorf und das Wieserfeld. Alle Habe ver« brannte. Das steyrische Klingenschmiedehandwerk und das Kleineisengewerbe, die als Hausindustrie betrieben wurden, schienen vernichtet. Doch unverzagt begann das Werk deis Wiederauh= baues. Fleißige Hände regten sich. Aus Österreichs Lan« den, ja selbst vom Ausland flössen reiche Spenden an Geld und Gaben. Kaum eini Jahr später erstanden neue Wohnungen aus den Schutthaufen. Reges Leben pulsierte in den wiedererbauten Häusern. Die eisernen Hämmer klopften erneut die Musik des Eisens. Die Leute zu Steyr

hatten ihren gesunden frohen Sinn trotz der überstandenen Not nicht verloren. JLaut schallte Gesang der Enns und Steyr entlang. Josef Werndl war Volksschüler, kein schlechter und auch kein hervorragender. Im Singen und Turnen bekam er stets eine blanke Eins, im Betragen eine weniger gute Note. Joisef "Werndl war ein Bub mit allen Fehlern und Tugenden, die Buben haben müssen. Der Junge kümmerte sich im Elternhaus wenig um seinen größeren Bruder Leo« pold und die kleineren Geschwister, die sich alljährlich emistellten. Immer, wenn er zur „iMoam" nach Unterhim« mel geschickt wurde, brachte der Storch ein neues Schwe« sterchen oder Brüderchen. Kaum mehr als einen Blick ver« wandte der kleine Josef für seine Geschwister. All sein Interesse galt der Werkstätte, die nun nicht nur im Hause Wieserfeld Nr. 44, sondern auch weiter unten an der Steyr, im Wehrgraben sich befand. In den vielen schwarz» gerußten Hütten arbeiteten Meister und Gesellen am Eisen, am Stahl. Dem Vater Werndl gefiel das aufge« weckte Wesen seines Sohnes wohl. Oft ertappte die für« sorgliche Mutter ihren Zweitgeborenen beim Schein einer brennenden Kerze, wie er zeichnete und in alten Büchern schmökerte. Der Schüler Josef Wemdl.war kein leicht lenkbares Kind, Jähzorn überfiel ihn öfters. Die Mitschüler hatten sich üim zu fügen. Sein erstes Sträuben galt dem frühmorgendlichen und oft sonntagnachmittäglichen Mini« strieren in der Vorstadtpfarrkirche. Für fünf Kronen Ent« lohnung machte dais Glocken bei Taufen, Hochzeiten, Be« gräbnissen nur Spaß, weil er sich am Glockenseil hoch» schwingen lie'ß, so hoch, daß der Mesner W^eiberl den jungen Werndl schon mit gebrochenen Gliedern am stei« nemen Kirchenboden liegen sah. Wehe dem Schüler, der sich beim Lehrer und Katecheten durch Angaben oder Frommtun einschmeichelte! Josef Werndls Fäuste waren

:gefürchtet, sein draufgängerischer Geist verschaffte ihm in der Schule bald eine Ausnahmestellimg. Dem Vater kamen viele Klagen über seinen Sohn Josef von den Lehrern, von Katecheten und von den Nachbarn zu Öhren. Des Meisters gesunder Menschen« verstand ließ den Klägern die irchtige Antwort zukom« men: „Mir ist's lieber, der Josef ist ein Hallodri, als daß er ein Duckmäuser oder gar ein Dummkopf wird!" Man« ehe Beule am Kopf mußte Frau Josefa ihrem Buben mit der kalten Messerscheide kühlen, manchen Riß in der Hose, manches Loch in der Joppe heimlich flicken und nähen, damit Vater Werndl nichts davon sah. Eines machte sich schon beim kleinen Josef bemerkbar: der Wandertrieb. Er liebte die Straßen, die Wälder. Oft bangten Eltern und Verwandte um den Ausreißer, bis die« ser ohne Arg auftauchte, erzählte, er sei nach Ost oder West, nach Süd oder Nord gelaufen. Die Eltern Wemdl, der Oberlehrer, die Lehrer, der Katechet und Josef waren selber froh, als der Tag kam, da der Schulbesuch sein Ende nahm. Das Abgangszeugnis für Josef fiel nicht schlecht aus, aber auch nicht gut. Er be« kam von seinem Vater die erste lange Hose und eine sil« berne Taschenuhr. Stolz, einem Hahne gleich, stolzierte Josef in seiner langen Hose viele Stimden durch die Gas« sen Steyr's, den Wehrgraben entlang und durch's Aichet, über Plätze, zog gewichtig seine große, irchtiggehende Uhr, zog sie so, daß es die vorübergehenden Leute auch isehen konnten. Am liebsten hätte er den Leuten zugerufen; „Schaut's her, ich bin kein Schulbub mehr, ich trag schon lange Hosen, und eine silberne Uhr zeigt mir die Zeit anl" Josef Wemdl verprügelte, bevor er seine Lehrstelle in Wien bezog, alle Mitschüler, die ihm in der Schulzeit Spott und Arger angetan hatten. Meister Leopold Werndl war nun schon viele Jahre

älter geworden, mehr als ein Jahrzehnt. Das Haar durchwoben mit weißen Fäden, der Schritt nicht mehr so kräftig, der Körper gebeugt. In seinen Werkstätten, in denen er nun auch Gewehrteile, sogenannte Armaturen, herstellte, hatte er viele hundert Gehilfen und Lehrlinge beschäftigt. An den k. u. k. privilegierten bürgerlichen Büchsenmacher, der ein bedeutender Meister seines Faches war, Herrn Fruhwirth in Wien, schrieb Meister Leopold Wemdl einen langen Brief, darin er das Ersuchen stellte, ob sein Sohn dort das ehrliche Gewerbe der Büchsen« macher erlernen dürfte. Josef konnte die Antwort aus Wien kaum erwarten. Obwohl das Städtchen Steyr und die Menschen darin ihm die Welt bedeuteten, zählte er die Stunden, die ihn nach Wien führten. Wandern wollte der junge Josef, weit fort wandern. Endlich brachte der Postbote die Antwort aus Wien. Säuberlich stand darin zu lesen, des Meisters Wemdl Sohn solle nach Wien kommen und als Lehrling bei dem Büchsenmacher Früh« wirth eintreten. Auf einem schwarzgelb gestrichenen, von zwei kräftigen Gäulen gezogenen Stellwagen der Ordinari« Post, fuhr Josef über Enns nach Linz an der Donau. In einem kleinen Holzköfferchen, auf beiden Seiten mit Holz« griffen versehen, hatte Mutter Josefs Wäsche, Kleidung, Schuhe zurechtgelegt. Bs war nicht zu viel und nicht zu wenig für einen Lehrling aus bürgerlichem Hause. Ein Anzug für sonntags, zwei Hoisen und Joppen für wochen« tags, für die Werkstätte. Handgewobene Zwillichschürzen sollten die Hosen schützen. Zwischen Bauern, Weibern, Handwerkern und Kauf« leuten eingepfercht, saß der Lehrling Josef Wemdl im Stellwagen. Daß die Welt so groß sei, das hatte der junge nicht geglaubt. Unterwegs wurden die Pferde aus« S Kernmayr, Werndl 33

gewechselt. Der Kutscher, der die Peitsche lustig knallen ließ, konnte wild fluchen. Handwerksburschen zogen, mit Ranzel und Knotenstock bewaffnet, dem Wagen entgegen: guten Mutes sangen sie mit kräftiger Stimme frohe 'Lieder. Körbe, Koffer, Hühner in Holzsteigen, Gemüse in Stroh=ä körben wackelten beängstigend auf dem Verdeck des Stellwagens. Ein Bäuerlein hatte ein rosiges Schweinchen unter seinen Arm geklemmt, das zum Ergötzen aller Mit# fahrenden bestrebt war, isich selbständig zu machen. Groß# mächtig rauschte die Donau vor Josef Wemdls Augen dahin. Ein Marktschiff kreuzte auf. Ein Schiff, worauf Verkäufer alle möglichen Handelswaren an die Uferbe# wohner verkauften. Alles was vor Josefs Augen aufblaute, erschien ihm neu und eigenartig. Er spürte nicht das Rumpeln und Rütteln des SteÜwagens. Seine Augen hatten viel zu sehen, seine Sinne viel aufzunehmen. Mit dem Postraddampfer schwamm der Lehrling Josef Wemdl die Donau abwärts gegen Wien zu. Melk mit dem barocken Klosterbau, Dürnstein, hinter dessen Burgmauern einst der englische König Richard Löwenherz gefangen saß, den Liedern seines Sängers Blondel nächtlicherweile lau# sehend, ließ ihn erschauern. Krems, die Stadt des Handels und Wandels und vieler Menschen, bestaunte er. An bei# den Ufern des Donaustromes sah er die Rebe auf hell# grünen Hügeln. — Als Pförtner zur großen kaiserlichen Stadt Wien erstand der Kahlenberg vor den Augen des vor Neugierde fiebernden Josef. Die Wienerstadt mit ihren vielen hohen Häusern und barocken Kirchen, mit ihren smaragdgrünen Kuppeln und Dächern, die Stadt, da der Westen den Osten grüßt, in der jede Hausmauer die Geschichte von Jahrhunderten erzählen kann, nahm Josef Wemdl willkommend auf. Die Luft und ein unbeschreiblich blauer Himmel

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