Landstrich 1983, Nr. 3, Widerstand

Das ist ein Onkel, sagte die alte Frau, auf mich deutend, begrüßt ihn, er ist von weit herge kommen! Die beiden Knaben, fünf und sechs Jahre alt, gaben mir die Hand. Die kurzärmeligen Hem den entblößten die ovalen Punktierungen der Impfmale. Verlegen traten die Knaben von einem Fuß auf den anderen. Ihre neugierigen Blicke umzingelten mich. Hat der Onkel auch etwas mitgebracht? wollten sie wissen. Das Gesicht der jungen Frau lief rot an. Was fällt euch ein, schalt sie zornig, wie oft habe ich euch schon gesagt. Besuche nicht anzubetteln? Die Kinder starrten eingeschüchtert zu Boden. Bohrt nicht in den Nasen rum, rief die junge Frau, nehmt eure Butterbrote und verschwindet! Die Schuld liege bei mir, versuchte ich lachend ihren Ärger zu beschwichtigen, es tue mir leid, daß ich nichts besäße, was ich den Kleinen hätte schenken können. Es wäre richtig ge wesen, etwas mitzubringen. Nein, schüttelte sie den Kopf, die Kinder dürfen nicht betteln! Sie versetzte den beiden Knaben einen leichten Schlag und schickte sie aus dem Zimmer. Die alte Frau stand auf. Sicher möchten Sie das Haus sehen, sagte sie, ich werde es ihnen zeigen. Aber Mutter, wandte die junge Frau ein, ich weiß nicht, ob das recht ist! Die Alte ignorierte den Einwurf. Kommen sie, forderte sie mich auf, und ich folgte ihr durch alle Räume. Die Zimmer waren kühl, kühler als draußen der Tag. Der Duft von Ver gangenheit, den der Garten noch hielt, war hier erloschen. Von allen Umarmungen, Gerü chen, Schwüren, Bekenntnissen, Seufzern nichts mehr. Fortgetropft in die Tiefe der Jahre. Wie viele Türen! dachte ich. !n den Spiegeln sah ich mich selbst: enttäuscht und geschän det, ein vom Alter gezeichneter Mann. Ich blieb stehen und horchte auf die Böden. Kein freundlich begrüßendes Knarren, kein auch noch so verletzliches Geräusch sollte mir ent gehen. Aber die Böden gaben keinen Laut. Die Holzriemen waren herausgerissen und über all durch Kunststoffbeläge ersetzt. An den ehemals weiß gekalkten Wänden klebten Tape ten. Unterhalb der schrägen Dachwand, wo ich gewohnt hatte, befand sich das Schlafzim mer des jungen Paares. Anstatt eines Ofens hatte ich während besonders strenger Winter eine elektrische Kochplatte aufgestellt, die im Umkreis die Vorstellung einer winzigen wär menden Sonne erzeugt hatte. Nun entdeckte ich unter den Fenstern die eingebauten Ra diatoren einer Zentralheizung. Nein, ich wollte nicht zurückdenken! Aber ich spürte jetzt, ich hatte dieses Haus geliebt. Zuletzt stiegen wir in den Keller hinab. Ich kannte das Haus in allen, auch seinen verbor gensten Winkeln. Oft genug hatte ich mit meinem Vater zusammen Ausbesserungen vorge nommen, schadhaften Verputz erneuert, Kamintüren eingemauert, morsche Sparren ausge wechselt: In einem Haus gab es immer Arbeit. Nun sah ich weiße, pelzige Flecken an den Kellerwänden, geschwürige, strahlenförmig sich ausdehnende Strukturen. Merulius lacrimans domesticusl dachte ich. Es beginnt! Das Haus zersetzt sich! Bleistiftdicke Myzelsträn ge durchwuchsen das Gewölbe. Ich bohrte den Fingernagel in eine Ritze, die Mauer gab nach wie ein Schwamm, feuchtrot bröselte der Ziegel heraus. Kein Zweifel, das Haus hatte die Todesflecken. Mein Mund war trocken vor Erregung. Man hätte das faulende Gemäuer unterfangen, es stückweise herausnehmen und mit Beton plombieren müssen. Es gab auch chemische Mittel, die ein Übergreifen der infizierten auf die noch unbefallenen Stellen ver hinderten; vielleicht wäre das Haus noch zu retten gewesen. Aber der Mann und die junge Frau verstanden nichts vom Bauen. Das Haus wird sterben, dachte ich, seine Festigkeit läßt bereits nach. Die Flecken werden sich ausbreiten, Löcher werden entstehen, sich vergrö ßern, immer mehr von der Leere draußen, vom Nichts lassen sie ein. Ein Tag wird kommen, da stirbt das Haus, es wird die neue Generation nicht überdauern. In zwanzig, dreißig Jah ren spätestens ist es so weit. Mein Herz jubelte. Das Haus stirbt! Es stirbt wie ich! Und wie 96

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