Landstrich 1983, Nr. 3, Widerstand

nen Füßen. Nahe den Erlen fand ich die Stelle, die der Mann mir angegeben hatte. Das ver wilderte Grab war ein einziger Haufen ineinanderwuchernden Unkrauts. Still nahm ich mein Nylonsäckchen aus der Manteltasche, machte es auf und streute die fremde Erde, nicht viel mehr als eine Handvoll Staub, über den Hügel. Dann ging ich zurück. Wieder schrie der weiße Kies unter mir. Ich empfand Beschämung und eine unpersönliche, fast anonyme Traurigkeit. Der Mann stand noch immer da. Erst als ich am Verwaltungsgebäude vorbeikam, verschwand er. Die Stadt war bis ins Dorf hinunter gewachsen, mit ihren Asphaltstraßen, Siedlungshäusern und Müllhalden. Von Vogelscheuchen keine Spur. Ich riß ein paar Halme ab vom Straßen rand und kaute sie, wie früher. Sie schmeckten nach Teer. Autos und Motorräder überholten mich; ein Werksomnibus hielt an und entließ eine Grup pe von der Frühschicht heimkehrender, in blaue Overalls gekleideter Arbeiter. Kurz darauf sah ich hinter den Bäumen das Haus. Ein Platz, wo Bäume wachsen, muß der Zukunft ab gewonnen sein, hatte mein Vater gesagt. Er hatte Bäume gepflanzt, Blumen- und Gemüse beete angelegt. Er hatte ein Haus gebaut. Ich habe nichts gebaut. Ich besaß nichts zu ver erben. Ich war das geworden, was er am meisten von allem gehaßt hatte: ein Wurzelloser. Durch eine Öffnung in der Verzäunung trat ich auf den Plattenweg bis vor den Eingang. Im Vorgarten waren Rosen an Stöcken mit bunten Glaskugeln aufgebunden. Ein kleines Mes singschild mit dünnen, verschnörkelten Buchstaben hing unter der Glocke. Mein Name war gelöscht aus der Tür. Mein Vater war tot, das Haus hatte längst seinen Besitzer gewechselt, hatte ich denn etwas anderes erwartet? Gern wäre ich eingetreten, um die Abdrücke der Hände und Gedanken noch einmal zu spüren auf Tisch oderWand; vielleicht war auch die Kammer noch da unterm Dach, die man nicht heizen konnte und in der ich gesessen hatte, wenn draußen Schnee gefallen war, von nichts erwärmt als von dem Verlangen nach Selbst bezichtigung. Aber wer von denen, die jetzt hier wohnten, würde das verstehen und einem Fremden Einlaß gewähren? Ich habe nicht geläutet. Ich habe nicht geklopft. Trotzdem entstanden im Innern des Hau ses Geräusche. Ich hörte Schritte auf den Fliesen, das Zurückziehen des Riegels, das Reiben des Schlüssels im Schloß. Die Tür wurde einen Spalt weit aufgezogen. Mein Bewußtsein nahm die Vorgänge wahr als ein Ergreifen von Wirklichkeit. Hatte ich also doch geklopft? Hatte der Knöchel meines Zeigefingers sich vorgewölbt und gegen das braungebeizte, von der Witterung rissige Holz geschlagen? Oder hatte man mich vom Fenster aus beobachtet, als ich, in einem Anfall von Schwäche, meinen Körper einen Augenblick gegen die Mauer lehnte? Aus dem Türspalt fragte mißtrauisch eine Frauenstimme, was ich wünsche. Ich ver suchte verlegen zu erklären, daß ich früher einmal hier gewohnt hätte. Ihr Mann sei nicht da, wies mich dieselbe Stimme ab, um ihn anzutreffen, müßte ich abends kommen. Das sei nicht nötig, entschuldigte ich mich; ich wolle niemanden belästigen; nun, da ich gesehen hätte, daß sich das Haus in guten Händen befinde, sei ich beruhigt. Die Auskunft stimmte sie versöhnlicher. Die Tür wurde ganz geöffnet, im Halbdunkel des Flurs erschien das Ge sicht einer jungen Frau. Maria! sagte ich überrascht, aber dann erinnerte ich mich, daß das unmöglich war. So heißt meine Mutter, sagte verwundert die junge Frau. Sie rief ins Haus, und eine zweite, ältere Frau erschien, die mich ruhig anblickte. Sie kennt mich noch, dachte ich und wartete auf ihre Stimme. Aber sie sagte nichts; in ihrem Gesichtsausdruck war kein Entgegenkom men. Vielleicht treten Sie doch ein, sagte die Tochter unsicher, mein Mann wird ja nichts dage gen haben. Sie hat Kinder; eine Tochter! dachte ich und ging an ihnen vorbei ins Haus. Ich sah überall meine Niederlage. Im Wohnzimmer bot mir die junge Frau einen Sessel an. In einer großen 94

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