Oberösterreich, 39. Jahrgang, Heft 3, 1989

Der ländliche Raum übererschlossen? Verkehrswesen und Siedlung in Oberösterreich Leonhard Höfler Übererschließung — IVas Ist das? Es gilt als nahezu unbestrittene Zielvorstel lung jeder Regional- und Verkehrspolitik, daß ganzjährig jedes dauernd besiedelte Haus mit Personenkraftwagen und jeder Betrieb mit Lastkraftwagen erreichbar sein sollen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, könnte für den Straßenverkehr von einer Vollerschlleßung des Landesgebietes gesprochen werden. Der provokatIve Begriff „Überer schließung" beinhaltet somit die Vorstellung, daß Im Straßenbau In der Vergangenheit über das Ziel geschossen wurde und dadurch die Attraktivität des Individualverkehrs überpro portional zugenommen habe. Vergleichbare Qualltätsvorstellungen Im öffentlichen Ver kehr oder gar Im nichtmotorisierten Verkehr existieren derzeit nicht. Im öffentlichen Ver kehr wird vielfach die Sicherstellung einer Mindesterreichbarkeit diskutiert. Diese an sich statische Interpretation der Aufgaben des Verkehrswesens geht von einer vorgege benen Siedlungsstruktur aus; das Verkehrs wesen wäre demnach auf die Sicherstellung von Raumerschließungs- und Standortver bindungsfunktionen beschränkt. Das tatsächliche Zusammenwirken von Sied lungsstruktur und Verkehr Ist jedoch wesent lich komplexer, als durch diese eindimensio nale Gegenüberstellung ausgedrückt werden kann: Siedlungsstruktur und Verkehr bilden gleichsam zwei Selten einer Münze und kön nen nicht für sich allein behandelt und ge plant werden; dies gilt als Allgemeinwissen der Verkehrsplanung. Unter dieser dynami schen Perspektive — d. h. die zeitliche Di mension berücksichtigende Betrachtungs welse — Ist die eingangs formulierte Zielvorstellung wesentlich kritischer zu hlnAmpflwang — Blick von Ackersberg nach Norden. Von Übererschließung kann hier — zum Glück — noch nicht die Rede sein. — Foto: H. G. PrIIIInger, Gmunden terfragen. Als „Übererschließung" wäre dem nach jenes Verkehrsangebot zu qualifizieren, das solche siedlungsstrukturelle Entwick lungsprozesse anregt oder fördert, die ge samtgesellschaftlichen Ziel- und Wertvorstel lungen zuwiderlaufen. Diese Argumentation scheint gerade Im Hinblick auf die Dynamik der Siedlungsstruktur als Meßlatte besser ge eignet als die eingangs formulierte Ziel vorgabe. Diese Ausführungen sollen zeigen, daß die Grenzziehung zwischen Vollerschließung und Übererschließung kein objektiv meßba rer Sachverhalt Ist, sondern wesentlich von unseren Wertvorstellungen bestimmt wird. Gerade In letzter Zelt sind die den Verkehr be treffenden Vorstellungen einem deutlichen Wandel („Wertewandel") unterworfen. Damit Ist das grundsätzliche Dllemma, daß langle bige und strukturbildende Infrastrukturen nach zeitlich veränderbaren Meßkriterien beurteilt werden sollen, aufgezeigt. Die Ein schätzung des Straßenbaues generell, aber auch die Meinungsäußerungen zum öffentli chen Verkehr sollen diese Problematik Illu strieren.

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