Oberösterreich, 39. Jahrgang, Heft 3, 1989

Die Baufluchtlinie (anbauverbindlich) sammenfluß von Nachbarschaftsrecht, Sta tik-, Zivilschutz- und Brandschutzvorschriften ohnedies nur Gewicht hat, was zähl- und meßbar ist. Mit Baukultur im Sinne des gestellten The mas will diese Praxis nicht allzuviel zu tun ha ben: Wo Planung ihren Gestaltungsauftrag vernachlässigt oder gar nicht wahrnimmt, hilft sich der „Häuslbauer" selbst durch nach trägliche Applikation von ausgedientem land wirtschaftlichen Gerät und anderen Arten von Rustikalkitsch, während die Hausfrau gerne die Intensivbetreuung von Ziergarten und prämiierungswürdigem Blumenschmuck auf üppigen Balkonbrüstungen auf sich nimmt, wird doch anhand solcher Kriterien jährlich das „schönste Dorf" des Landes gekürt. Wenn wir davon ausgehen, daß Bauwerke in der Regel nicht nur den Zweck anzeigen, für den sie gebaut sind, sondern auch vom je weiligen Zustand auf die (Intensität der) Nut zung geschlossen werden kann, so ist die Siedlung im Ländlichen Raum gegenwärtig vom Auseinanderdriften zweier völlig unter schiedlicher baulichen Komponenten ge kennzeichnet. Die alte Bausubstanz im Kern verliert immer mehr ihre ursprüngliche Funktion. Am Rande und darüber hinaus wächst neue Bausubstanz rasch und weitausgreifend nach einem standardisierten Schema und im Ergebnis doch gestaltlos. Wie noch vor wenigen Jahren in den Städten, besteht auch bei den Dörfern die Gefahr, daß sie aus ihrer Mitte heraus verfallen. Funk tionslose, ungenutzte Bausubstanz verfällt rasch, der Verfallsprozeß strahlt auf die nähe re Umgebung aus und — den Weg des ge ringsten Widerstandes gehend — wird jeder Dorfbewohner, der sauber, ordentlich und zeitgemäß wohnen will, die entsprechenden Voraussetzungen dafür nur mehr an der Peri pherie vorfinden. Versuchen wir, mit einer Art Polaritätsprofil die herkömmliche alte Bausubstanz und das gängige Modell des „Neuen Bauens" im Ländlichen Raum anhand einer Auswahl der wichtigsten und prägenden Merkmale einan der gegenüberzustellen. ALTE BAUSUBSTANZ sam als Reservate traditionellen und „land schaftsgebundenen" Bauens (für wen und wie lange noch?) konservieren wollen, sind — weil einem rein statischen Denkansatz ver haftet — für die weiteren Überlegungen si cher auszuscheiden. — Eine weitere Versuchung mag nun darin bestehen, bestimmte Teilbereiche isoliert zu bewerten und so etwa die Aspekte von Ge borgenheit und Nachbarschaftlichkeit her auszugreifen, als „neue Dörflichkeit" zu eti kettieren und überall als Rezept zu vermarkten. Eine solche Werte vermittelnde bauliche Umgebung war aber immer Ergeb nis einer ganz bestimmten Lebens- und Wirt schaftsweise, die von selbst nicht mehr zu neuem Leben erwachen kann, am wenigsten dann, wenn der Faktor Arbeit ausgespart bleibt. — Was aus dieser tiefgreifenden Identitäts krise als neue Baukultur, als neues kulturelNEUE BAUSUBSTANZ Zweck, Funktion, Nutzung Durchmischung mehrerer Funktionen monofunktional, genormt für kurzzeitig z. T. Mehrgenerationsnutzung möglich aktualisierten Bedarf (z. B. Kleinfamilie) Veränderbarkelt, Planungsaufwand entsprechender Planungsaufwand für i. d. Regel ohne größerem PlanungsaufFolgenutzungen nötig, Risikofaktor Bau- wand realisiert. Veränderbarkeit gering Substanz Bezug zu Ort, Topographie und Umgebung vielfältiges Beziehungsgefüge von Indifferenz zu Umgebung und Gelände Dominanz bis Anpassung Vorherrschende Bauwelse verschiedene Bauweisen in unterschied- offene Bauweise („ums Haus gehen können") lieber Form der Verdichtung in meist stereotyper Rasterparzellierung Raumqualltät Differenzierte Raumabstufungen in Öffent- Raumdifferenzierung durch Einfriedungen; lichkeit, Halböffentlichkeit und Privatheit; Freiräume lediglich mit Restflächencharakter; Raumfolgen von Plätzen, Gassen, Tor- Raumzerstörung durch Abstandsregulierung Situation etc. Flächenverbrauch, Infrastruktur geringer Flächenverbrauch durch Dichte hoher Flächenverbrauch und Infrastruktur aufwand Fahrt jS Dorfrand aus der Perspektive des Autofahrers Von der Diagnose zur Therapie: Kosmetik oder Roßkur? Diese grob vereinfachende Gegenüberstel lung von gleichzeitig Kernfäule und peripherem Wildwuchs ist keine Legitimation für die weitere Entwicklung. Sie ist mehr als nur die Feststellung eines lan desweiten Trends, nämlich das Erkennen eines Krankheitsbildes In seinen wirtschaftli chen, kulturellen und sozialen Dimensionen. Welche Therapien stehen dagegen zur Auswahl? — Jene Überlegungen, die die wenigen, ver hältnismäßig unberührten Bereiche gleich es Selbstverständnis für die Bauaufgaben des Ländlichen Raumes herausführen soll, muß als Strategie umfassend sein. Der Lösungsansatz könnte dennoch verblüffend einfach und von jedem nachvollziehbar for muliert werden; Wer die Bereitschaft zeigt, jede anstehende — auch noch so geringe — Baumaßnahme bewußt und kompromißlos der Fragenkombi nation warum bauen? wo bauen? wie und womit bauen?

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