Baum — Mensch — Mythos Heinz-Peter Türk Seit jeher kommen Baum oder Strauch, z. B. um den Bauernhof, um das Haus oder im Garten, eine besondere Bedeutung zu. Vor erst waren es mystische Beweggründe, die den Menschen an die Pflanze, im speziellen an den Baum, banden. Man denke an die Baumverehrung früherer Völker, an die heili gen Haine der Griechen und Römer oder an den Weltenbaum „Yggdrasil", der in der Vor stellung des Menschen als immergrüne Welt esche Sitz der gerichthaltenden Götter war. Der Mensch früherer Zeiten stand in einer sehr engen Beziehung zu Baum und Strauch, da ihm diese neben wirtschaftlichen Vorteilen und in der Naturheilkunde vor allem Schutz und Schirm für seine Behausung, vor Raubzeug, wildweidendem Vieh oder vorbei ziehenden räuberischen Stämmen bot. Nicht von ungefähr kennen wir eine Menge überlieferter Lieder, Sagen und Märchen, in denen von einem Apfelbaum, einer Linde, Esche oder Eiche die Rede ist. Das besonde re Verhältnis zur Natur, insbesondere zum Baum, kommt darin zum Ausdruck. Auch eine für uns heutzutage kaum mehr verständ liche Symbolik und manches Brauchtum fußt darin. Ein schon selten gewordener Brauch am Lan de ist das Anpflanzen eines Birn- oder Apfel baumes bei der Geburt eines Sohnes oder einer Tochter. Die schöne Sitte, einen „Haus baum" zu haben, der je nach den Verhältnis sen eine Eiche, Esche, Linde oder ein Nuß baum war, ist selten geworden. Oft war dieser Hausbaum einige hundert Jahre alt. In sei nem Schatten begegneten sich jung und alt und ein großer Teil des häuslichen Lebens spielte sich darunter ab. Eine ähnliche Be deutung hatte die Dorflinde. Vor allem aber deuten Begriffe wie Weltenbaum, Baum des Lebens, Stammbaum u. ä. darauf hin, daß der Baum seit jeher als Symbol des mensch lichen Lebens sowie des gesamten Kosmos angesehen wurde. Besonders der Wechsel vom Tod zum Leben im jahreszeitlichen Ab lauf des Baumes erschien den Menschen aus früherer Zeit als etwas Gewaltiges — My stisches, da sie den Ereignissen und Kräften der Natur viel mehr ausgeliefert waren als wir heute. Sie sahen transzendent für ihren eige nen Lebensablauf das scheinbare Streben des Baumes im Herbst, die Todesstarre im Winter, das Wiedererwachen im Frühling und das Fruchten im Sommer. Es ist daher verständiich, daß „heilige Bäume" bzw. Welten bäume bei allen Völkern in ihren Religionen, Überlieferungen, Mythen und in der Volks kunst vorkommen. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle ein Zitat von Bernatzky über das uralte Bild des Weltenbaumes wiedergege ben werden, das auch für unseren geograWiedererwachen Im Frühling phischen Raum von Interesse ist: „Am stärk sten ergreift uns und steht uns heute auch zeitgeschichtlich am nächsten die Darstel lung dieser Überlieferung in der Weltesche Yggdrasil der nordisch-germanischen Mytho logie. Yggsdrasil ist der kosmische Baum schlechthin. Mensch, Tier und Pflanze ver danken ihre Existenz dem Weltbaum. Nach dem Edda-Lied Völuspa reicht er mit seinen Wurzeln bis in die Tiefe der ünterwelt, wäh rend sein grüner Wipfel sich in den Himmel erstreckt. So verbindet er Himmel, Erde und Unterwelt. Weißer Nebel netzt den Baum und fällt als Tau in die Täler. Der Honigtau seiner Zweige ist das Lebenswasser des Himmels, das vom kosmischen Scheitelpunkt hernie der rinnt und sich in der ünterwelt zum Brun nen sammelt. Drei Quellen entspringen an seinem Fuß: Hvergelmir, die Mutter aller Flüs se; Mimir, die Quelle aller Weisheit, der Erin nerung, der Meditation; und die Quelle des Schicksals, die von Urd, der weisesten der Nomen, behütet wird. An den Wurzeln des Baumes nagt die Schlange Nidhögg, um sie zu durchbeißen, was der Adler der Götter zu verhindern sucht. Er wird Bestand haben, wenn alles zusam menstürzt. Wenn die Endkatastrophe der Welt anbricht und die Berge umstürzen, dann wird Yggdrasil von den Wurzeln bis zum Gip fel erschüttert — aber nicht gestürzt. Alles wird untergehen: Götter und Welt, Himmel und Erde, aber der riesige Weltbaum wird überleben, und ein neuer Kosmos wird sich um ihn herum bilden." Dieser den Himmei, die Erde und die Unter welt verbindende Baum befindet sich im Zen trum des Weltalls und stellte nach der damali gen Auffassung die Achse der Welt dar. Aus Felszeichnungen und deren Darstellun gen alter Völker geht ebenso hervor, daß eine Identität zwischen Baum und Mensch herge stellt wurde. Die uralte Überzeugung von der Gleichartigkeit von Menschen und Bäumen lag auch in der Auffassung, daß Bäume eine Seele besitzen wie die Menschen und daß in beiden der gleiche Wunsch besteht, zu wach sen, zu blühen und Frucht zu tragen (vgl. W. Mannhardt). Altes Brauchtum weist auf diese Einstellung hin. So baten die Holzfäller in der Oberpfalz die Bäume, die sie fällen mußten, vorher um Verzeihung. Angeblich wurde dieser Brauch in Österreich christlich überformt: „Im Baume wohne eine arme Seele, die, wenn man ihr Abbitte leiste, frei würde, sonst aber im Baumstumpf weiter gefangen bliebe" (vgl. Bernatzky). Derartiges Brauchtum war vor nicht allzulan ger Zeit auch noch im Mühlviertel üblich. Beispielsweise wurde vor dem Umschneiden eines Baumes mit der Axt dreimal ein Kreuz gemacht, oder mit der Axt dreimal an den Stamm geklopft mit den Worten: „So jetzt ge mas au", oder es wurde ein „Keil" im Walde belassen. Die Ehrfurcht vor dem Baum ging nach altem Gewohnheitsrecht von Markgenossenschaf ten so weit, daß bei Beschädigungen lebendi ger Bäume furchtbare Strafen drohten. Die betroffenen Teile des Baumes, der Bast als Darm, Stamm und Zweige der Glieder, die Baumkrone als Kopf wurden bei Beschädi gungen als Bestrafung analog zum Frevler vollzogen. Wie bereits erwähnt, kam der Esche als Wel tenbaum in der indogermanischen Mytholo gie eine große Bedeutung zu. Aus der Edda ist zu entnehmen, daß aus der Esche der Mann und aus der Ulme die Frau als Stamm eltern der Menschheit hervorgingen. In der griechischen Götterkunde wurde als heiliger Baum die Eiche dem Zeus, in der rö mischen dem Jupiter und in der germani schen dem Donar zugeordnet. Es ist daher verständlich, daß der Hl. Bonifatius eine Donareiche in Hessen und der Hl. Martin 29
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