Oberösterreich, 37. Jahrgang, Heft 3, 1987

Literaturbeilage einen Abgrund an Sachlichkeit zu blicken, der Rätsel stellt, die jeder auf seine Weise löst. Zur ehrenvollen Namenlosigkeit des Wagenlenkers verhält sich Antinoos als Gegengleichnis: die ganz auf sich gestellte Individualität. Während der griechische Wettkämpfer zu den Höhen seiner Unsterblichkeit im Nachruhm getragen wird, scheint die Gestalt des jungen Favoriten des Kaisers Hadrian einsam aus Wolken herabzusinken, beschwert von Me lancholie. Zunächst wirkt es wie Eitelkeit, daß sich der Körper so auffäl lig präsentiert. Die muskulöse Brust ist von angehaltenem Atem geho ben. Die Drehung der Hüften und der Winkel der Beine, der das Geschlecht nahezu aufdrängt, sind auf begehrliche Bewunderer berech net. Aber es liegt auch eine Last auf dieser Schönheit: das machtlose Ein verständnis mit einem Lebensgefühl, das den Nachglanz eines vermeint lich goldenen Zeitalters entschwinden sieht. Antinoos steht jenseits von Kampf und Selbstbehauptung, jenseits des Appells, für andere Vorbild zu sein. Er kehrt aus dem Olymp, zu dem sich der Wagenlenker ohne Trunkenheit erhoben fühlte, zur Erde zurück — und sieht sie zum Grab geöffnet. Die Berichte der „Ecole Frangaise dAthenes" haben den Wagenlenker als „den Menschen" gedeutet, „voll Kraft und Bescheidenheit, seines Wertes bewußt, frei von Anmaßung". Wenn dies zutrifft, ist Antinoos der Mensch, der trotz Kraft und Schönheit seine Vergänglichkeit erkennt, frei von Hoffnung. In beide Haltungen ist delphische Strahlung eingegangen, die Moral eines versuchenden und prüfenden Orakels, das zum bedin gungslosen Glauben den Schauder vor der menschlichen Unzulänglich keit forderte. Gerade hier glaube ich dem Wesen des vielgesichtigen Got tes nahe zu sein: im Schnittpunkt des Widerspruchs, dort, wo sich die magischen Blicklinien der Jünglinge, von denen der eine im Hochgefühl des Sieges das „Metron austron" beherzigt, der andere dem „thneta phronein" nachsinnt, wo sich ihre Blicke auf das Todlose und das Tödliche kreuzen, dort müßte er, der Herrscher über diese und alle Bereiche, dort müßte Apollon erscheinen, mit seinem vieles bedenkenden, vieles ver bergenden, olympisch geneigten Profil. Zwielichtiger Boden. Die von Beben zerklüftete Heilige Straße ist von Schatten gefleckt. Sommer und Herbst scheinen sich zu vermischen. Eben noch war der Tempel vom Lichtraum einer augenschmelzenden Hit ze verklärt. Jetzt entrücken ihn vergehende Wolkennetze, eine schweben de Rauchflut. Wir haben uns allmählich daran gewöhnt, die technische Geheimschrift der Baureste zu lesen. Doch nun uns der Temenos des Gottes mit seiner kühnen Terrassengliederung übersichtlich geworden ist, befremdet ein Bauplan, der die Erhabenheit des Ortes zugleich bekräftigt und wider legt. Der mauernerbauende, mauernstürzende Apollon hat sein Säulen haus nicht auf dem Boden der Gaia-Themis, wo er Python tötete, errich tet, sondern auf einem effektvolleren Hochplatz, der die delphische Steinbucht beherrscht. Noch heute hat der Pilger, der von Eleutherai über Archova herankommt, oder, wie wir, von Itea aus das Steiltal erklommen hat, das mystische Ziel weithin vor Augen. Zu den Zeiten des delphischen Glanzes, als die Pythia noch nicht zu klagen hatte, daß Phoibos der pro phetische Lorbeer entrissen sei („Nicht mehr dient ihm die Quelle, ver stummt ist das murmelnde Wasser"), war der Weg zur Orakelstätte je doch kaum geeignet, auf das Ritual vorzubereiten. Er führte zuerst über die Agora, mitten durch schamlose Händlergeschäftigkeit, dann entlang einer Parade üppiger Schatzhäuser. Der Gott empfing den Gläubigen mit einer Demonstration seines Reichtums, als hätte er es nötig gehabt, die Seelen zu bestechen. Oder sollte durchblicken, daß er selber bestechlich sei? Denkt man an die Fülle der Statuen, an die Prunkgefäße, Dreifüße und geweihten Waffen, an die Mengen des hier zusammengerafften ge münzten und ungemünzten edlen Metalls, bekommt das Bild Delphis einen fatalen Schaubudencharakter; es profaniert sich zu einem unbequemen sa kralen Rummelplatz, über dem ein Gotteshaus wie ein steinernes Riesenka russell auf den Korso und seine überquellenden Tresore herabblickt. Der tendenziöse Vergleich mit dem Vatikan gereicht dem katholischen Machtzentrum fast zum Vorteil. Auch den christlichen Gott maskiert in Sankt Peter eine Fassade von erdrückender Pracht, aber er ist doch ohne Spießrutenlauf der menschlichen Begehrlichkeit zwischen Juwelen und Gold zu erreichen. Die eigentlichen Kirchenschätze, die unerschöpflichen Depots, liegen, als täten sie weniger zur Sache als wahr ist, abseits und un ter gutem Verschluß! Indessen ist auch die Unverfrorenheit der delphischen Priesterschaft und der Amphiktionie, ihres politischen Instruments, be wundernswert, einen Heilsort so offen als Räubemest auszustatten. Nie mals dürfte hier die Notwendigkeit bestanden haben, zu verheimlichen, daß Delphi aus jeder Wendung der Geschichte seinen Vorteil gezogen hat. Wenn Athen nach Siegen über griechische Bruderstädte dem Gott Dankge schenke anbot, konnte man gewiß sein, daß auch die Besiegten nach ge glückter Revanche mit Beutegaben nach Delphi eilen würden. Tatsächlich ist die Liste der Spender eine Versammlung von Siegern über das eigene Volk. Sogar mit den Persern wußte sich Delphi freundlich zu arrangieren; nichtsdestoweniger schmückte es sich mit den Trophäen von Artemision, Marathon und Salamis. Der Gott war eben schon damals immer in beiden Lagern — unter dem Anschein unparteiischer Gerechtigkeit. Zwiespalt und primitive Eifersucht lagen in seinem Interesse, solange sie den Einfluß des Orakels stärkten. Nicht zufällig wurde ja gerade hier der Begriff des „Heiligen Krieges" erfunden, eine moralische Mißgeburt, die sich, wie alle Abscheulichkeiten, als besonders langlebig erwies. Den Begriff des „Heili gen Friedens" blieb Delphi der Welt schuldig. So setzt der Gott aufreizend neben sein „sophronein" (Bescheide dich) die Unbescheidenheit, die Gefallsucht und Prahlsucht seiner androgynen Na tur, die in allen ihren Leidenschaften den Gegensatz bedenkenlos auslebt! In der Liebe genügt es dem Gott nicht, eine Kreusa, die Tochter des Königs Erechtheus von Athen oder die Nymphe Dryope zu verführen, er begehrt auch Hyakinthos und verewigt den toten Freund durch die Schöpfung der Hyazinthe aus seinem Blut. Ihm genügen der Himmel und die Bereiche des Lichtes nicht — er okkupiert ein Erdorakel und herrscht nun auch über Be sinnungslosigkeit und stammelnde Raserei. Sein Machtanspruch ist so un genügsam, daß er sich gegen Zeus erhebt. Doch in seinem Tempel predigt der Revolutionär Selbsterkenntnis und Mäßigkeit. Er, der in Olympia sieg te, verschließt in Delphi seinen Bezirk vor den sportlichen Kampfstätten, dafür nimmt er das Theater, das doch, wie man gewöhnlich meint, dem rivalisierenden dionysischen Kult zugeordnet sein sollte, in die Grenzmar ken seines Orakels auf. Wirklich, Apollon ist göttlichster Gott, er ist nicht nur allwissend, alliebend, allverzeihend, allgütig, er ist auch allgrausam, allhassend, allzerstö rend und allungerecht. In ihm erscheint als unwiederholbares und unüber tragbares Phänomen (das deshalb nicht in die römische Kulturzeit gerettet werden konnte, so daß Delphi als Teil des Imperiums rasch verfiel und je der Versuch mißlang, es als römisches Staatsorakel zu etablieren) die grie chische Einheit der Gegensätze, erscheint personifiziert die Spannweite eines Lebensgefühls, das immer beides zugleich hergab: die innere Ghaotik und humane Disziplin, Anbetung des Erhabenen und schamlose Aus schweifung, Menschenverehrung und kultische Menschenfresserei, den Peniskult und die Askese, Erotomanie und Engelhaftigkeit, Selbstbeherr schung und Selbstzerfleischung, Klugheit und Besessenheit, Fanatismus und Toleranz, das Schöne in seiner Identität mit dem Schrecklichen. Nietzsches Gegensatz des „Apollinischen" und „Dionysischen" ist also nicht viel mehr als ein überschätzter Begriffsapparat, der viel Zersplittenmg lei stete. Der delphische Bezirk mit seiner umgreifenden Anlage beweist viel mehr die substantielle Verwandtschaft des Dionysischen mit dem Apollini schen, ist doch das Heiligtum als Ganzes eine gewaltige Tempelbühne, eine geweihte Skenae. Das Theater als gespielte Manifestation göttlich verur sachten und göttlich verwirklichten Schicksals ist beides in einem: ein 87

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