Oberösterreich, 37. Jahrgang, Heft 3, 1987

Literaturbeilage Und wirklich hatte ja die Pest, als sie Perikles fällte, die Strategie Athens verwirrt. Sie hatte die attische Großmacht geistig getötet, bevor die Flotte und das Heer vernichtet wurden. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges ist geradezu exemplarischer Schicksalsvollzug der delphischen Maxime, daß der Leib dem Geist in die Zerstörung folgen müsse — ins Moralische transponiert: Das Erwachen des Gewissens ist der Beginn der Vergeltung. Phoibos, der Strahlende, liebt eine Aura des Grauens. Er erscheint, wenn er zum Kampf aufgerufen ist, in Nacht, in drohende Gewölke gehüllt, fast möchte man sagen: im Zentrum zersetzender Strahlen. Er inszeniert seinen Auftritt auf der Schicksalsbühne. Er ist ein Künstler des Tötens, ein folternder Ästhet, ein Meister des grausamen Zögerns. Erbitterung macht ihn nicht blind, sondern verführt ihn zum Spiel mit seinen Opfern. Nach einer Variation des Niobe-Mythos zwingt er die Königin von The ben, die sich gerühmt hat, an Kindern reicher als die Göttin Leto zu sein, dem Tod ihrer Söhne zuzusehen. Auf dem Kithairon gelagert, durchbohrt Apollon, gelassen zielend, in diesem Augenblick nahezu eine Maschine der Vernichtung (machina ex deo), die sieben Jünglinge, während Arte mis im Palast die Mädchen mit unfehlbaren Pfeilen niederstreckt — und Niobe erstarrt auf ihrer Flucht nach Lydien am Berg Sipylos zu einem weinenden Stein. Kassandra, die dem Gott Liebe versprochen hat und dann nicht Wort hält, wird für ihren Betrug nicht etwa getötet oder der Prophetengabe beraubt. Apollon verurteilt sie zur Sklaverei, zum Elend einer verlachten Seherin, der niemand glaubt. Diese Neigung zum langsamen Gericht, zur durchdachten Tortur, liegt auch dem delphischen Orakelspruch zugrunde. Der Gott gibt den Verur teilten die Wahrheit in einer Form zu wissen, die dem Schicksal hilft, sich zu vollziehen. Manchmal genügt es ihm, die Antwort so genau auf den Gegenstand der Frage zu begrenzen, daß Wesentliches im Dunkel bleibt — denn wer fragt, irrt bereits. So enthält der Befehl zum Muttermord, den Orest in Delphi empfängt, nur beiläufig eine Warnung vor der Rache der Eumeniden, dafür spart Apollon nicht mit Drohungen, wenn Orest sich seiner Pflicht entzöge. Er werde von Lepra befallen werden, sein Kör per werde sich ekelerregend mit weißem Schimmel bedecken, kein Tem pel, keine Stadt, kein Haus werde ihn in seinem Unglück aufnehmen. Vor solche Entscheidung gestellt, wählt Orest das anscheinend kleinere Übel, das ihn später zum Wahnsinn treibt, er wählt, ohne es zu wissen, zwi schen zwei Möglichkeiten der Selbstzerstörung. Ähnlich undurchsichtig ist die Haltung des Gottes im Ödipus-Mythos, denn viermal greift das Orakel in die Handlung ein, viermal stößt es auf der Schicksalshöhe den Stein an, der die Tragödie, die schon zur Ruhe gekommen ist, wieder in Gang setzt und die Fragenden unter sich begräbt. Tröstliche Klarheit, das am wenigsten hat Delphi geboten. Seine Sache war das gefährliche, vieldeutige Silbenrätsel. Ironische Scharaden dop pelsinniger Beunruhigung sollten Panik, Kurzschlußhandlungen, inneres Chaos und Willenslähmung auslösen. Auch die diamantene Härte des delphischen Fluchs scheint immer ein Gran Verblendung, zurückfragen de Versuchung enthalten zu haben. Warum also behält der Gott sein All wissen, das er ohnedies nur scheinbar und meistens zum Schaden preis gibt, nicht bei sich? Wären die Folgen nicht so katastrophal, machte doch die Verachtung, mit der Apollon in der „Ilias" über die „am Boden wan delnden Menschen", die „Armseligen" spricht, göttliches Erbarmen als Be weggrund unwahrscheinlich. Muß man es nicht geradezu als den Gipfel bitteren Hohns empfinden, daß der Gott nach alledem Sokrates zum wei sesten der Menschen erklären ließ, den Kyniker, der sein vorgegebenes Nichtwissen zur Falle für das vorgegebene Wissen der anderen machte, den egoistischen Lustgreis der Philosophie, dem man vielleicht doch nicht ganz ohne Grund den Giftbecher aufzwang? Vielleicht öffnet sich aber gerade hier der Zugang zu einer göttlichen Di stanz, die sich zu nichts, am wenigsten zum Mitleid verpflichtet fühlte. Sollte das Spiel mit denen gespielt werden, die nicht bescheiden genug waren, sich bedingungslos in die Hand des Gottes zu geben, die sich an maßten, von den olympischen Herrschern Zeichen, Winke und Auskünf te zu erschmeicheln? Ist die delphische Vieldeutigkeit der Lohn für den Hochmut, Fragen zu stellen, wenn Ergebenheit angemessen wäre? Zieht sich der Gott in Rätsel zurück, um klarzustellen, daß er nicht von gleich zu gleich verhandelt? Dann wäre Euripides sein Sachwalter gewesen, als er auf der Bühne aussprechen ließ, es sei albern, seine Hoffnung auf Zei chen und Prophezeiungen zu setzen, denn, wer den Gott zum Freund habe, empfinge Orakel aus der eigenen Brust. Verweist der befragte Gott auf die innere Stimme und will er, wenn er Heimsuchungen verhängt, daß der Mensch, durch sie genötigt, sein Heim suche, seine Wohnung in der Ordnung? Die Antwort darauf ist selbst an daimon gebunden. Die Auslegung des Apollonbildes hat sich allgemein an der Würde und Schönheit der Statuen orientiert und hat die dunklen, schockierenden Seiten des Mythos gern und oft sehenden Augs unterschlagen. Apollon als Idol der Humanisten trägt ein Gesicht ernster Erleuchtung, das wun derbare Profil, die schimmernde Stirn im Zentrum des Westgiebels von Olympia, wenn der Gottjüngling mit unverwundbarem Leib den Kampf der Lapithen und Kentauren beim Hochzeitsfest des Peirithoos durch schreitet und das mörderische Getümmel mit einer herrscherlichen Geste von sich abhält. Inmitten der wüsten Schlächterei prähellenischer Stäm me erscheint die Hoheit des Gottes als ein Licht neuer, idealer Gesittung, vor dem die Dunkelheit vorzeitlicher „Unmenschlichkeit" zusammen bricht. Dieses Klima olympischer Lauterkeit treffen wir in Delphi nur im kleinen Museum vor dem Eingang zur Kultstätte an. Nur ein Teil der Säle steht uns offen. Breite, durch getrockneten Mörtel starr gewordene Tücher ver hängen den Blick auf die Sphinx der Naxier und auf die Akanthus-Säule mit den Leibern der Thyiaden, die ich gerne näher besehen hätte, weil sie etwas wie einen antiken Jugendstil, klassische Sezession ausdrücken. Museale Süffisanz, ich meine die Herablassung, mit der sich Bildwerk und Betrachter gegenseitig deklassieren, kommt hier nicht auf. Kalte, schneewangige Windstöße zerstreuen den Geruch nach feuchtem Ton und die Meißelsplitter der Restaurateure. Für Minuten liegt das Haus un ter der Fläche einer dunklen Hand, die sich senkt und die Mauern in die Erde drücken will. Dann wird sie von einer hohen Lichtwelle beiseite ge schlagen. Eine Stunde verbringe ich vor dem Wagenlenker und dem Standbild des Antinoos, der hier ohne göttliches Synonym sich selbst darstellt. Sechs Jahrhunderte trennen den römischen Epheben von dem Weihegeschenk der Tyrannen von Gela und Syrakus für einen Sieg im Wagenrennen der pythischen Spiele, sechs Jahrhunderte, in denen Griechenlands Macht und Kultur durch Expansion verfielen. Natürlich erreicht das hellenisti sche Antinoos-Bild nicht den künstlerischen Rang der älteren Bronzepla stik, die einer attischen Werkstatt zugeschrieben wird, und doch ist sie in ihrer sympathischen Unvollkommenheit kein leicht zu überspielender Rivale. Der Bann, der von den geschliffenen Augensteinen des Wagenlen kers ausgeht, vermag nicht völlig den Gedanken auszuschalten, daß das Torsohafte der Wirkung zu Hilfe kommt. Die Haltung der Statue, die sichtbare Funktion, zwingen die Phantasie, die verlorengegangene Qua driga zu ergänzen, doch geht die Imagination vom Vorhandenen aus und fügt nur soviel hinzu, wie das erhaltene Bruchstück erträgt. Sähen wir die vollzählige Gruppe der mächtigen Pferdeleiber, sähen wir den sizilianischen Sieger in seiner gegürtelten Tunika zweifach erhöht auf seinem Rennwagen und dem Statuensockel, der nicht das Detail, sondern die ge schlossene Figurenkomposition darbot, unverletzt vor uns, würden wir an Ergriffenheit verlieren. Die befremdende und bezwingende Intimität des Aug-in-Auge, die immer den Reiz eines keuschen Frevels besitzt, wäre zerstört. Es wäre nicht mehr möglich, unter den metallenen Lidern in 86

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