Oberösterreich, 37. Jahrgang, Heft 3, 1987

Literaturbeilage der Kulturzeitschrift Oberösterreich Heft 3/1987 Mein Weg nach Delphi Kurt Klinger Anmerkung der Redaktion Kurt Klinger wurde 1928 in Linz geboren. Viele Jahre war er Chefdramaturg am Landestheater Linz, derzeit ist er neben seiner dichterischen Tätigkeit Vizedirektor der „Osterreichischen Gesellschaft für Literatur" und Herausgeber der Monats schrift „Literatur und Kritik". Für sein literarisches Schaffen wurde er mit vielen Auszeichnungen geehrt: Staatsförderungspreis für Dramatik, Literaturpreis des Wiener Kunstfonds, Dr.-Karl-Renner-Preis der Stadt Wien, Landeskulturpreis für Literatur des Landes Oberösterreich, Georg-Trakl-Preis, Anton-Wildgans-Preis. Sein literarisches Oeuvre ist umfassend und vielseitig: Gedichte, Prosa (Erzählun gen), Essays, Hörspiele und Theaterstücke. Seine besondere Neigung gehört der griechischen Antike. Sehr bekannt wurde er 1954 mit seinem Theaterstück „Odysseus muß wieder reisen". Im Auftrag des Burgtheaters schrieb er bemerkenswerte Nachdichtungen, darunter von der Sophokles-Tragödie „Odipus auf Kolonos". Für „Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart" verfaßte er eine kenntnisreiche Abhandlung über die österreichische Gegenwartslyrik bis 1980. Während der Herstellung des Heftes 3/1987 der Zeitschrift „Oberösterreich" er schien im Otto-Müller-Verlag Salzburg von ihm unter dem Titel „Zeitsprung" ein neuer Gedichtband, 113 Seiten, Ladenpreis S 168.—. Die Redaktion dankt dem Dichter für seine Mitarbeit in diesem Heft, eine Aus zeichnung für unsere Zeitschrift. Noch geblendet vom Korinthischen Meer und von phokischen Oliven wäldern plötzlich vor den Phädriaden anzuhalten, plötzlich in eine Kälte versetzt, die nicht aus dem Gestein kommt, sondern aus dem eigenen Herzen, beraubt uns wie eine unermeßbare Sekunde zwischen Flug und Fall jeder Bewegung der Abwehr. Wir haben zwielichtigen Boden betreten, eine Landschaft lyrischer Schrecken. Immer ist der unsichtbare Schild des Gottes gegenwärtig und berührt uns als mahnende, kühle Grenze. Von der dunklen Kante des Nordgebirges geht heute nicht der gerühmte musische Glanz aus, sondern gewitternahe Drohung, als hätte sich dort eine verhüllte „fernher klirren de" Waffe zum Schutz des Heiligtums erhoben. Keiner der Adler Delphis schwebt über den wetterleuchtenden Zinken, aber sie sehen uns — ich weiß, sie sehen die kleine Gruppe, die mühsam den alten Prozessionsweg hinansteigt. Sie haben uns gesehen, seit wir nach Delphi aufbrachen, frü her schon, als wir uns Griechenland näherten. Vielleicht war unser Leben seit je in ihren grauen, starren Linsen gespiegelt. Delphis Adler sind die Augen des Gesteins und halten mit ewigem Blick das Land unter der Herr schaft des Heiligtums. Sie sind Spione des Orakels, Zubringer der gehei men Informationen, die von der Priesterin im Rauschen der weissagen den Quellen zum vieldeutigen Urteil verdichtet wurden. Sie sind Instrumente und Gleichnis der göttlichen Allgegenwart, die eine Allge genwärtigkeit des Blicks ist, denn vor ihnen, auf der Parnassoshöhe, liegt Hellas offen da, eingesehen mit allen seinen Tälern. Vom „Berg der Vollstreckung" vermag der Gott adleräugig auszuspähen bis zu den Rändern der griechischen Kolonisation, bis Sizilien, bis zum Hellespont, bis zur ruhelosen karischen Küste. Sein Gericht ist unent rinnbar. „Elende, sitzt ihr noch da? Flieht bis ans Ende der Welt. Verlaßt eure Häu ser, die steinummauerten Städte. Denn keines Menschen Haupt oder Leib wird unverletzt bleiben. Leben wird künftig geringgeachtet. Es stirbt am Feuer und an des Kriegsgottes Wut, der auf syrischem Wagen heranrast. Auf, verlaßt meinen Tempel! Ergebt euch dem Leid!" Das war zu den Athenern gesprochen, die um Schutz nach Delphi ge kommen waren, als sie vom Aufbruch des persischen Heeres erfuhren. Apollon, den erst die Alexandriner und später die Römer zum pfeiltra genden Charmeur, zum lockigen Lustknaben der Leier verzärtelten, spricht hier mit der Stimme des Weltenrichters, als Vermittler der gna denlosen Wahrheit. Er spricht in den breiten Rhythmen der Todesverkün digung, mit chthonischem Grave, erdbebenstimmig, wie in den homeri schen Szenen, wenn der Gott als Vemichter und Züchtiger der Massen, als Pestgott auftritt. Daß höchste Schönheit mit höchster Schrecklichkeit sich rüsten könne, daß der erheiternde Gott zugleich oberster Chorege der Klagen sei und über beide Wirklichkeiten herrsche, über Fruchtbar keit und Fäulnis, über Unsterblichkeit und sterblichen Verfall, war dem griechischen Denken so sehr als Glaubensmöglichkeit eingeprägt, daß noch die aufgeklärte Polls Attikas, die bereits durch die sophisti sche Schule gegangen war, als sie im zweiten Kriegsjahr gegen Sparta von Fieberseuche befallen wurde, darin ein Signal erblickte, daß Apollon auf die Seite des Feindes getreten sei. Sie ahnte den Fall Athens, der erst fünfundzwanzig Jahre später folgte, aus diesem Zeichen voraus. 85

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