Oberösterreich, 37. Jahrgang, Heft 1, 1987

Uber „Schinderbuden" und „Siebzigkreuzermandin" Lohnarbeit In Oberösterreich um 1900 Severin Heinisch / Ulrike Weber-Felber In der vorindustriellen Produktionsweise war der Arbeiter von seinem Dienstherrn persön lich abhängig. Das industriell-kapitalistische Arbeitsverhältnis hingegen beruhte auf einer formell gleichberechtigten Beziehung, dem „freien" Arbeitsvertrag zwischen Fabriksar beiter und dem Unternehmer. In Wirklichkeit verfügte jedoch der Fabriksherr über die weit aus stärkere Position und der Arbeiter war, um zu überleben, gezwungen, die Bedingun gen des Unternehmers zu akzeptieren. Fa briksarbeit wurde darüber hinaus bestimmt durch weitgehende Arbeitsteilung und fort schreitende Mechanisierung der Arbeitsvor gänge. Das erforderte einen mit dem Rhyth mus der Maschinen und der koordinierten Produktionsfolge synchronisierten „fremdbe stimmten" Arbeitsabiauf. Um eine maximale Nutzung der Maschinen zu gewährleisten, war kontinuierliche, regelmäßige Arbeit not wendig. Zur neuen Fabriksdisziplin mußten die Arbeiter aber erst durch niedrige Löhne und ein System strenger Regeln, der Bestra fung und Belohnung, „erzogen" werden. In der Anfangszeit des Fabriksystems waren die Arbeiter dem ungehemmten Gewinnstre ben der Unternehmer meist hilflos ausgelie fert. Arbeitszeiten von 16 Stunden und mehr, Kinderarbeit, niedrige Löhne, elende Wohn verhältnisse, Krankheiten etc. kennzeichne ten die Lage der Fabriksarbeiterschaft. Die bescheidenen sozialpolitischen Ansätze der josephinischen Ära gingen in der Industriali sierung des 19. Jahrhunderts völlig unter. Die „soziale Frage" wurde erst Jahrzehnte später wieder aufgegriffen. Auch der spontane Widerstand der Arbeiter gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeits bedingungen blieb meist wirkungslos: Man gel an Solidarität, Koordination und ein heitlichen Zielvorstellungen verhinderte dauerhafte Erfolge. Erst allmählich bildete sich in der Arbeiterschaft ein „Klassenbe wußtsein" heraus, das seinen Ausdruck in der Formierung politischer und gewerkschaft licher Organisationen fand. Dabei verlor der anfangs dominierende, aus der Tradition der Gesellenvereine übernommene Gedanke der Verbesserung der Lage der Arbeiter durch Selbsthilfe gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Einfluß. An seine Stelle trat die Forderung nach Ausbau des Schutzes der Arbeiter vor unternehmerischer Willkür und Ausbeutung durch gesetzliche Regelung des Arbeitsverhäitnisses, wie z. B. Festlegung der Höchstar beitszeit, Normierung der Arbeitsverträge etc. Einen ersten wichtigen Erfolg errang die österreichische Arbeiterbewegung mit dem Koalitionsrecht vom April 1870, das die Verab redung zum Zweck der Verbesserung der Ar beitsverhältnisse erlaubte. Die Legalisierung des Streiks erleichterte — trotz aller in der Praxis fortdauernden behördlichen und un ternehmerischen Schikanen — den Kampf um Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der ökonomischen Situation. Zu gesetzli chen Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter kam es jedoch erst in den 80er Jahren: das Gewerbeinspektorengesetz 1883, das Verbot der Kinderarbeit unter 14 Jahren, die Festle gung des llstündigen Normalarbeitstages für fabriksmäßige Betriebe 1885, das Verbot des Trucksystems (Entlohnung in Waren), die Errichtung von Arbeitsvermittlungsstellen, sowie die Einführung der Unfall- und Kran kenversicherung markierten eine Wende in der österreichischen Sozialpolitik.'' Denn diese Reformen waren geeignet, die gröb sten Übelstände in den Fabriken zu be seitigen. Freilich sollte es noch Jahrzehnte dauern, ehe die Realität des Fabriksalltags der ge setzlichen Norm angeglichen wurde. Daß dies geschah, war das Verdienst der zu Ende der 80er Jahre zunehmend stärker werden den Gewerkschaften. Aufklärung über die le galen Möglichkeiten, die die Soziaigesetze boten, war eine der Hauptaufgaben der Fach zeitungen der großen Gewerkschaftsverbän de. Berichte über Arbeitskämpfe und Arbeits bedingungen in bestimmten Betrieben sollten nicht nur die betreffenden Unterneh mer unter Druck setzen, sondern vor allem auch die Belegschaften motivieren, der Ge werkschaft beizutreten. Die Schilderungen der Arbeitsverhältnisse wurden meist von Arbeitern aus den betroffenen Betrieben ver faßt; sie bilden daher eine wichtige Quelle zur Erforschung der Arbeitsverhältnisse. Die stärkste Gewerkschaftsorganisation zu Ende des 19. Jahrhunderts war der Metallarbeiter verband, dessen Fachblatt 1894 in einer Auf lage von 9500 erschien.2 In der Rubrik „Aus der Werkstatt" findet sich auch reiches Mate rial über die Arbeitsverhältnisse in der ober österreichischen eisen- und metallverarbei tenden Industrie, das im Folgenden — ergänzt durch Berichte der Gewerbeinspek toren und andere Quellen — einen Einblick in die Probleme der oberösterreichischen Ar beiter um 1900 vermitteln kann. Die Eisen- und Metallverarbeitung hatte in der Region Steyr eine lange Tradition. Sie verlor jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts an wirtschaftlicher Bedeutung, da standort bedingte Nachteile und industriepolitische Versäumnisse den Anschluß an die indu strielle Entwicklung erschwerten. Der Groß teil der Betriebe blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kleingewerblich organisiert und war der Konkurrenz der maschinellen, fabriksmäßigen Produktion nicht gewachsen. Der Niedergang dieses Wirtschaftszweiges wirkte sich auch auf die Arbeitsbedingungen in Form eines verstärkten Lohn- und Lei stungsdrucks aus. Die Betriebe im Kieineisengewerbe (vor allem der Messer-, Nagelund Feilenproduktion) waren als „Schinder buden" bekannt. Am schlimmsten war die Lage der Grünburger Messerarbeiter, die, nach Angaben des Gewerbeinspektors, 14 bis 16 Stunden in engen und niedrigen Räu men (1,7 bis 2 Meter) bei schlechter, mit Polierstaub erfüllter Luft, mangelnder Be leuchtung und defekter Heizung zubringen mußten.'^ Arbeitsunfälle und ein allgemein schiechter Gesundheitszustand der Arbeiter waren die Folge solcher Arbeitsbedin gungen. Im Laufe der 90er Jahre wurde zwar auch in diesen Betrieben der llstündige Normalar beitstag durchgesetzt. Da aber die kargen Löhne kaum für das Lebensnotwendigste ausreichten, mußten die Messerarbeiter oft auch noch zu Hause weiterarbeiten, so daß sich ihr Arbeitstag auf 17 bis 18 Stunden aus dehnte.'' Der Widerstand gegen solche Ar beitsbedingungen blieb meist individueii, da sich in der Isolierung des Kleinbetriebs ein Solidaritätsbewußtsein nur schwer ent wickeln und die Gewerkschaft erst Anfang des 20. Jahrhunderts langsam Fuß fassen konnte. Ähnliche Verhältnisse wie im Kleineisenge werbe herrschten in den zahlreichen Sensen werken Oberösterreichs. Auch dieser auf den Export orientierte Industriezweig befand sich in einer chronischen Krise, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach einem Konzentrations- und Modernisierungsprozeß überwunden werden konnte.® Die Sensen produktion war aufgrund des arbeitsteiligen Verfahrens bereits früh fabriksmäßig organi siert. Die Betriebe erreichten oft eine beacht liche Größe, wie z. B. die 4 Sensenhämmer Caspar Zeitlingers in Micheldorf, in denen, 1845 insgesamt 451 Personen beschäftigt waren.® Im Unterschied zu anderen fabriks mäßig organisierten Branchen, wie z. B. der Textilindustrie, wo die Fähigkeiten des hand werklichen Arbeiters auf die Maschine über gingen und die Arbeit vorwiegend in der Überwachung und Betreuung der Maschinen bestand, blieben die einzelnen Arbeitsvor gänge in der Sensenproduktion handwerks mäßig, d. h. abhängig von Geschick und Er fahrung des einzelnen Arbeiters. Die Sensenarbeiter waren in der Mehrzahl hoch qualifizierte Fachkräfte, die nicht nur im Aus land bereitwillig Aufnahme fanden'', sondern auch in der heimischen Metallindustrie ge fragt waren: Die oberösterreichische Sensen industrie klagte wiederholt über die Steyrer 49

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