Bauernland mit kleinen industrielien Insein Die politische und soziale Landschaft Oberösterreichs um 1900 Harry Slapnicka Die 810.853 Bewohner, die Oberösterreich im Jahre 1900 zählte, machten rund 3 Prozent der Bevölkerung „Zisleithaniens", also der westlichen Reichshälfte der Habsburger monarchie, aus. Nicht weniger als 6 der 14 Länder dieser so bedeutsamen Ländergrup pe waren größer — und zwar in folgender Größenordnung: Galizien, Böhmen, Nieder österreich (einschließlich Wien), Mähren, die Steiermark und Tirol-Vorarlberg. Eine gerin gere Bevöikerungszahl hatten 7 weitere Län der: das Küstenland und die Bukowina, Schlesien, Daimatien, Krain, Kärnten und das Land Saizburg. Obwohl Oberösterreich, was Größe und Einwohnerzahl anbelangt, etwa in der Mitte lag, konnte man das Land nur als eines der kleinen Länder der Habs burgermonarchie bezeichnen. Auf einen Quadratkiiometer kamen 1900 in Oberöster reich 68 Bewohner — damit lag es sogar nur an achter Stelle der 14 westlichen Länder. Dieses seit 1861 als „Erzherzogtum Öster reich ob der Enns" bezeichnete Land gehörte zu den wenigen national wie religiös fast ein heitlichen Ländern. Der Anteil der Katholiken machte 97 Prozent aus — wurde dabei aller dings noch von den Ländern Salzburg, TirolVorarlberg, Krain, Steiermark und dem Kü stenland übertroffen. Von den 810.246 Men schen der „anwesenden einheimischen Bevöikerung" hatten nicht weniger als 795.335 deutsch als Umgangssprache, das machte 98 Prozent aus. Ähnliche Verhältnisse gab es nur in Salzburg und Vorarlberg. Somit gehör te das Land ob der Enns zu den wenigen poli tisch reiativ unkomplizierten Ländern der Habsburgermonarchie, und so war es ver ständlich, daß Kaiser Franz Joseph den ober österreichischen Landtag als „Musterland tag" wertete und bezeichnete. Das heißt nun keineswegs, daß es in Ober österreich im Verlauf der letzten Jahrzehnte der Habsburgermonarchie seit Konstituie rung des Landtages im Jahre 1861 keine poli tische Stürme gegeben hätte. Diese waren auch um die Jahrhundertwende nicht ganz abgeflaut. In Oberösterreichs Landtag hatten die Katholisch-Konservativen seit 16 Jahren, seit 1884, die Führung, nachdem vorher, durch 23 Jahre, die Liberalen die führende Partei waren. Die politischen Auseinandersetzungen betra fen fast ausschließlich das Wahlrecht, das den Liberalen maßgeschneidert war, wäh rend die Konservativen, gewiß auch der Bauernverein und zuletzt vor allem die So zialdemokraten, um eine Korrektur des Kurienwahlrechts, und wenn möglich, um seine Beseitigung bemüht waren. Bis 1900 war die Parteienlandschaft voll ent wickelt, nachdem in den beiden ersten Jahr zehnten des parlamentarischen Wirkens im Lande nur zwei poiitische Gruppen bestan den hatten. 1868 war als erste politische Gruppierung im Land der „Liberaie Verein" begründet worden, dem Ende 1869 der Ka tholische Volksverein foigte. 1861 und 1867 hatte man allerdings schon Landtagswahlen durchgeführt, ohne daß es politische Partei en, sondern nur Interessengruppen gegeben hätte. Dann war 1881 der Oberösterreichi sche Bauernverein hinzugekommen, der sich selbst als „weder liberal noch klerikal" wertete, in Wirklichkeit aber stark deutschna tional eingestellt war und sich Georg Ritter von Schönerer zum ersten Ehrenobmann er wählt hatte. Ende der achtziger Jahre waren auch die Sozialdemokraten nach längeren in ternen Auseinandersetzungen zwischen Ge mäßigten und Radikalen als wahlwerbende Gruppe in Erscheinung getreten. Um die Jahrhundertwende war schließiich der Über gang von den Liberalen zu den Deutschnatlonalen im volien Gange. Die Liberalen, die dominierende politische Gruppe innerhalb der ersten sechs Legisla turperioden des Landtages, waren 1884 durch die Katholisch-Konservativen abgelöst worden. Die Jahre zwischen 1884 und 1890 waren die letzten mit zwei politischen Partei en im Landtag. 1890 kamen die Deutschna tionalen hinzu; Katholisch-Konservative, Li beraie und Deutschnationale beherrschten die drei nachfolgenden Legislaturperioden der Jahre 1890 bis 1896, 1896 bis 1902 und schließiich 1902 bis 1909. Erst in diesem, dem letzten Landtag der Habsburgermonar chie, traten die Soziaidemokraten hinzu — vorerst mit einem einzigen Mandat. Der Bau ernverein, der zeitweise die zweitstärkste Gruppe im Lande nach den Katholisch-Kon servativen und vor den Liberaien war, hatte auf Grund des Wahlrechtes nie ein Landtags mandat zu erringen vermocht. So sehr dieser Landtag und die Landtags mehrheit auch nach jeder Wahl parteipoli tisch gewertet wurden, standen die Parteien doch mehr oder weniger noch im Hinter grund. Der Landtag war — und zwar bis 1918 — ein Kurienlandtag, bestehend aus den tra ditionellen Kurien des Großgrundbesitzes, der Städte und der Landgemeinden — erst 1909 kam als entscheidender Schritt zum all gemeinen, gleichen Wahirecht die fünfte oder die allgemeine Kurie hinzu — praktisch die Kurie derer, die keine Steuern zahlten und bis dahin nicht wahlberechtigt waren. Das ganze Wahlrecht und damit die politi sche Landschaft war aber noch weit kompli zierter. Ursprünglich waren — und zwar in den Jahren 1861 bis 1873 — die Reichsrats abgeordneten durch die Landtage nominiert worden. Ab 1873, mit Beginn eigener Reichsratswahien, ging man beim Ausbau des Wahirechtes auf der Ebene des Reichsrates andere Wege ais beim Landtag. Zweifeiios war die Entwickiung im Bereich des Reichs rates dynamischer als beim Landtagswahl recht — ganz abgesehen davon, daß auch das Wahlrecht in den verschiedenen Ländern der westiichen Reichshälfte, das noch 1861 fast einheitlich war, sich unterschiedlich ent wickelte. Das war angesichts der verschiede nen Nationen in den einzelnen Ländern und ihrem unterschiediichen Entwicklungsgrad nicht unverständlich. Anfänglich gab es in Oberösterreich bei einer Einwohnerzahl, die zwischen 700.000 und 800.000 schwankte, eine Zahl (30.000 und 40.000) von Wahlberechtigten, die ziemlich genau 5 Prozent der Einwohnerzahl aus machte — und zwar gleichermaßen bei Landtags- und Reichsratswahlen. Auch die Herabsetzung des Steuerzensus (also jener Steuerhöhe, mit der die Wahlberechtigung verbunden war) auf 10 Guiden im Jahr 1873 führte vorerst zu keiner nennenswerten Erhö hung der Zahl der Wahlberechtigten. Die Her absetzung des Steuerzensus auf 5 Gulden im Jahr 1882 brachte dann fast eine Verdoppe lung der Zahl der Wahlberechtigten, die nun mehr knapp unter 70.000 lag — damit aber noch immer sehr bescheiden blieb. Man soll te dabei allerdings berücksichtigen, daß die Steuerleistungen der Bürger sehr beschei den waren. Der entscheidende Sprung wur de, unmittelbar vor der Jahrhundertwende, 1896 mit der Einführung der allgemeinen Wählerklasse (wenn auch nur für die Reichs ratswahlen) getan. Damit erzielte man in Oberösterreich 257.153 Wahiberechtigte — die höchste Zahl bei Wahlen in der Monar chie, die auch nach Einführung des allgemei nen, gleichen und geheimen Wahlrechts im Jahr 1907 nie mehr überschritten wurde. Erst das Frauenwahlrecht brachte nach 1918 wie der eine höhere Zahl von Wahlberechtigten. Um die Jahrhundertwende gab es also in Oberösterreich bei Reichsratswahlen rund dreimal so viel Wähler als bei Landtagswah len. Jetzt spürte man das Nachhinken, für das es vieie Gründe gab, mehr als deutlich. Erst 1902 ging man beim Land von den indi rekten Wahlen in den Landgemeinden auf di rekte über. Das verlangten die Liberalen, um den Katholisch-Konservativen zu schaden. Diese stimmten erst zu, als jede Gemeinde gieichzeitig Wahiort wurde — und erlitten kei nerlei Verlust. Im gleichen Jahr 1902 war der Zensus für die Landtagswahlen auf 6 Kronen herabgesetzt worden. 1907 wurde dann für die Reichsratswahien die ailgemeine, gleiche und direkte Wahl eingeführt — ohne daß da mit die Zahl der Wahlberechtigten ausgewei tet worden wäre. Erst 1909, also 13 Jahre spä ter als bei Reichsratswahlen, wurde auch für 37
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