Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 4, 1986

Gideon ist allein unterwegs. Die Menschen, die ihm begegnen, Kurgäste wie er oder Einheimische, sind ihm ebenso fremd wie er ihnen. Die mei sten Hotels haben um diese Zeit des Jahres geschlossen, und auch sein Hotel ist nicht voll belegt, so daß er nur ab und zu jemanden trifft, mit dem er auf Grußfuß steht. Aber Gideon ist gerne allein, zumal er sich wirklich nicht wohl fühlt. Je länger er die schon so oft begangenen Wege abgeht, desto elender fühlt er sich, ja, er fühlt sich krank und um Jahre gealtert. Und sollte sich doch hier in dem als Jungbrunnen gepriesenen S. erholen! Gideon ertappt sich, wie er nach dem Asthmatiker Ausschau hält. Der aber läßt sich heute nicht blicken. Auf dem Heimweg beginnt Gideon zu husten und Schmerzen in der Brust zu verspüren. „Jaja, mein Bester", hört Gideon plötzlich und völlig unerwartet den Asthmatiker sagen, denn noch nie zuvor ist er ihm außerhalb des Kur parks begegnet. Er dreht sich ein paarmal um die eigene Achse, sucht mit den Blicken die Bäume der Bahnhofstraße ab, ja schaut sogar hinauf zu den Dächern und den Fenstern der Häuser, doch der Asthmatiker ist nir gends zu sehen. Und doch hört er itm weitersprechen. „Jaja, ein langes Le ben macht müde, glauben Sie mir, und krank. Sind Blätter nicht glück lich zu schätzen, so schmerzlos altern und sterben zu dürfen?" Gideon wird es heiß, und er spürt ein inneres Glühen, das begleitet wird von frostigen Schauern. Vielleicht bin ich zu scharf gegangen! denkt Gideon und öffnet wider alle Vernunft, einem beinahe tödlichen Impuls folgend, Mantel und Schal. Ein jäher Windstoß wirft Eiskristalle und Schneestaub von den Bäumen und Dächern, die Gideons Stirne und Wangen streifen und ein Prickeln auf seiner Haut hinterlassen. Die Kühle tut gut! Tief atmet Gideon ein und aus, ein und aus und fühlt beim Atmen einen leisen, ziehenden Schmerz. Die Luft ist rauh und kalt imd reizt Gideon, zu husten. Vlll Am folgenden Tag fühlt sich Gideon besser und wagt einen Spaziergang bei beißender Kälte. Heute ist er der einzige Spaziergänger in der Allee, offenbar das einzige Lebewesen weit und breit. Kein Hund bei seinem Auslauf ist zu sehen, auch kein Vogel, nicht einmal Spatzen oder Dohlen oder Möwen. Sogar die Stockenten haben sich nach ihrer Fütterung durch die Kurgäste, zu der sie sich tagsüber unter den Brücken versam meln, frühzeitig in ihre Quartiere an den Uferböschungen des Flüßchens zurückgezogen. Wären nicht die Geräusche von Autos gewesen, die von der Durch zugsstraße hoch oben am Hang und durch ein Wäldchen gedämpft her abdringen —, im Park hätte Totenstille geherrscht. Auf einmal hört Gideon hinter sich Schritte, feste, entschlossene, näher kommende Schritte. Der Asthmatiker? Gideon fährt herum. Nein, nicht der Asthmatiker. Ein Landpolizist. Vor Gideon bleibt er stehen. Der erschrickt und ergreift als erster das Wort: „Sind Sie gekommen, um mich zu verhaften? Ich habe zwar einige Blätter zertreten, aber die waren schon tot. Ich habe sie nicht ermordet." „Wer redet von Blättern?" fragt der Landpolizist verwundert, „wer von Verhaften? Sie sollen verhört werden, einvernommen zum Tod eines Mannes. Er litt an Asthma. Er wurde im Morgengrauen gefunden. Erfro ren. Unter der Blutbuche. Sie sollen ihn gekannt haben, heißt es. Kannten Sie ihn?" Gideon nickt und folgt dem Landpolizisten auf das Revier. Dort gibt er zu Protokoll, daß er einem ihm namentlich unbekannten Mann von un bestimmbarem Alter, gewiß aber über sechzig, der an schwerem Asthma litt, einige Male in der Allee von S. begegnet sei und mit ihm gesprochen habe, obwohl eigentlich der Mann mit ihm gesprochen, ihn jeweils als er ster angesprochen habe und ihn, wie er leider bemerken müsse, gewisser maßen belästigt habe. Mehr könne er dazu nicht sagen. Daß er ihn durch die Luft fliegen und in der Astgabel eines Baumes habe sitzen sehen, erwähnt Gideon nicht. Man hätte ihm gewiß nicht geglaubt und an seinem Verstände gezweifelt. Da der Asthmatiker sich nicht mehr einmischen kann und sich die Land polizei mit seiner Auskunft zufriedengibt, läßt man Gideon gehen. In der Nacht setzt ein Sturm ein, der bis in den frühen Morgen durch die Mulde von S. tobt und großen Schaden anrichtet. Gideon kann sich selbst davon überzeugen; Dachziegel und -schindeln sind abgetragen, die restlichen Blätter von den Bäumen gefegt worden. Zweige abgebrochen und starke Äste geknickt. Die Allee und der Park bieten ein Bild der Verwüstung. Unverzüglich reist Gideon ab. IX Kaum heimgekehrt, bricht Gideons Krankheit, die er in S. verschleppt hat, mit voller Wucht aus. Der Hausarzt steht vor einem Rätsel und läßt Gideon ins Krankenhaus bringen, in dem er trotz aller ärztlichen Bemühungen immer mehr ver fällt. Zu Rate gezogene Fachärzte von Rang kommen zu keiner Diagnose. Die Blutsenkung ist zwar etwas hoch, doch wo liegt die Ursache dafür? Gideon wird für organisch gesund erklärt. Psychosomatische Störungen? Das alte Nervenleiden? Gideon landet auf der Neurologie. Er magert ab und seine Haut wird aschfahl, welk und voll brauner Flecken. Sein Kopf wird kahl. Er verliert Augenbrauen und Wimpern, und sogar das Haar seiner Scham. Er atmet kurz und flach, bis eines Tages, bei einem unerwarteten, nicht enden wollenden entsetzlichen Hustenanfall, sein Herz versagt. Nach schrecklichen Krümmungen, zu denen der qualvoll geschüttelte Körper noch fähig ist, streckt Gideon sich und entläßt den letzten Atem aus sei nen Lungen. Dünn, gelb und still liegt Gideon im Bett. Todesursache: Herzversagen. Seine Krankheit aber wird für immer ein Geheimnis bleiben, da Gideons Eltern sich weigern, zur Obduktion ihre Zustimmung zu geben. X Ein paar Monate später. An einem milden, sonnigen Frühlingstag durchmißt ein etwa sechzigjäh riger Mann die Allee von S. von Norden nach Süden. Er geht festen Schrittes, den Duft der Blüten ringsum wie ein Dürstender das Wasser in sich einsaugend, als könne er für alle Zeit die mit Süße getränkte Luft in seinen Lungen speichern. Die Bäume und Sträucher haben sich in frisches Laubwerk gekleidet. Sein Grün ist so hell und rein, daß der Mann unter dem Einfall des Sonnen lichts geblendet die Augen schließt. Nachdenklich bleibt er vor der mächtigen Blutbuche stehen. Der Schat ten eines liegenden menschlichen Körpers darunter kann nicht von ihm selbst stammen, noch von einem der Zweige, auch nicht von einer Wolke, denn der Himmel ist makellos blau. Ein Hirngespinst? Spöttisches Lächeln kräuselt die leicht bläulichen Lippen des Mannes, als sich während seiner Betrachtung der Schatten unter der Blutbuche auf löst, im Boden versickernd wie verschüttetes Wasser im Sand. Der Spaziergänger lacht laut heraus. Es ist das Lachen eines gesunden Mannes, der noch viel mehr lacht, als er wenig später, tiefer drinnen im Park und etwas abseits vom Wege, einen toten Baum entdeckt, der über wuchert ist von üppigen Mispeln. Fröhlich und schwungvoll, fast jugendlich, setzt der Mann seinen Weg fort. 85

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