Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 4, 1986

ßen Grund betrachtend. Kein Künstler könnte ein besseres Bild der Ver gangenheit malen! „Ein wahreres Bild, meinen Sie wohl", sagt eine bekannte Stimme hinter Gideons Rücken. Er braucht sich nicht umzudrehen, um sie zu erkermen und will ihr schleunigst entfliehen, doch der Asthmatiker vertritt ihm den Weg. „Ist es nicht so, mein Bester? Die Macht der Natur zeigt das wahrere Bild, aber die Natur der Macht gaukelt das bessere vor. Wahr an der Vergangenheit ist einzig allein, daß sie war, gewesen, vorbei. Die toten Blätter lehren es uns. Lassen Sie den Wind hineinfahren in sie — und schon haben sie ein anderes Muster der Wahrheit vor sich und ein anderes Bild der Vergan genheit!" Die lange Rede hat den Fremden merklich angestrengt, denn er ringt um Luft, sie beim Einatmen mit gewaltsam gedehntem Zwerchfell einziehend und beim Ausatmen mit einem leisen Pfeifton entlassend. Gideon schaut den Mann kopfschüttelnd an und sagt: „Sie müssen ver rückt sein, in Ihrem Zustand bei diesem Wetter auszugehen und auch noch zu sprechen! Was Sie aber vor allem sind —: Sie sind ein Misan throp. Ein Pessimist." Es gelingt Gideon nicht, an dem Mann vorbeizukommen, denn der hat ihn kurzerhand beim Arm gepackt, und hält ihn zurück und lacht ihm lautlos in das Gesicht. Überrascht über die unerwartete Kraft des Asthmatikers, gerät Gideon in Zorn. „Was erlauben Sie sich! Lassen Sie los! Sie könnten mein Vater sein, sonst würde ich anders mit Ihnen reden!" Des Mannes lautloses Lachen weicht jäh einer besorgten, ja beinahe traurigen Miene. Ohne Gideons Arm frei zugeben, sagt der Asthmatiker: „Sie loslassen? Ja, glauben Sie denn, Sie könnten ohne Halt leben? Schauen Sie sich die Blätter an! Können die ohne Halt leben? Ohne den Halt, den ihren Stengeln der Zweig gibt, dem Zweig der Ast, dem Ast der Baum, dem Baum die Wurzeln, den Wurzeln die Erde . . ." „. . . und der Erde die Schwerkraft!" unterbricht ihn Gideon mit hochro tem Gesicht, dunkler rot als das des Asthmatikers bei dessen Bemühun gen, fließend zu sprechen. „Hätten Sie nicht Ihr Leiden, mein Herr, ich stieße Sie zur Seite. Treiben Sie's nicht zu weit, und lassen Sie mich los!" Das Gideon schon vertraute hüstelnde Gekicher des Mannes klingt belu stigt und macht ihn umso zorniger, je länger sein Oberarm eisern um klammert bleibt. Ohne auf Gideons Protest einzugehen, setzt der Asthmatiker den Ein wurf seines Opfers fort: „. . . und die Schwerkraft den Gesetzen des Uni versums, der Astrophysik!" ,yon Chemie halten Sie nichts?" bellt Gideon, ohne sich im klaren zu sein, warum er gerade diese Frage gestellt hat. Langsam spürt er Haß gegen diesen Menschen wachsen in sich. „Im Gegenteil, im Gegenteil, mein Bester!" Der Asthmatiker keucht vor Vergnügen. „Ich weiß, Sie haben täglich die Blätter betrachtet, ihren Ver fall beobachtet wie ein Arzt das klinische Bild eines Sterbenden. Ist das nicht Anschauungsunterricht in Chemie?" „Ich nehme soeben Anschauungsunterricht in Gewalt!" schnaubt Gideon, der nicht aufgehört hat, zu versuchen, sich dem Griff des Mannes zu ent winden. Allein, je mehr er sich plagt und je mehr sein Oberarm schmerzt, desto fester packt der Asthmatiker zu. „Langsam fange ich an, zu glauben, daß Sie Komödie spielen, daß Ihr Asthma nur vorgetäuscht ist, um Mitleid zu erregen und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen, Sie gewalttätiger Mensch!" stößt Gideon, nun seinerseits kurz atmend, hervor. „Gewalt", lacht der Fremde, von Husten unterbrochen, mit fast teuflischer Freude, „da sind wir beim Thema: Gewalt liegt in der Macht der Natur, und Gewalt liegt in der Natur der Macht. Sehen Sie: Die Natur meiner Lungen ist schwach, aber die Macht meiner Arm- und Fingermuskeln ist groß. Bei Ihnen ist es genau umgekehrt. Ihre gesunden Lungen helfen Ih nen wenig bei so schwachen Muskeln. Sie trainieren zu wenig, mein Be ster! Wo Gewalt nicht als Naturereignis auftritt, muß sie geübt werden. Und glauben Sie mir, ich habe die Gewalt meiner Muskeln geübt!" „Sie ist in der Tat erstaunlich!" räumt Gideon unter schmerzlichem Stöh nen ein. „Das erste vernünftige Wort, das Sie sagen", lobt der Asthmatiker. „Ich war nämlich Pianist, müssen Sie wissen, und ich war berühmt dafür, daß ich die schwarzen und weißen Tasten bearbeiten konnte wie kein anderer. Selbst die Oktaven spielte ich im Prestissimo mit einer Kraft, die ihres gleichen suchte. Zwölf Klaviere habe ich zuschanden gespielt. Bei meinen Beethoven- und Liszt-Abenden rissen die Saiten wie Spinnwebfäden! Meine Spezialität waren Stücke in Fis-Dur, in meiner Lieblingstonart. Am Ende eines Konzerts war nicht mehr eine einzige schwarze Taste in takt. Die Veranstalter knirschten mit den Zähnen, aber sie waren macht los, derm ich füllte Säle und Kassen, und ich war zudem hoch versichert. Haben Sie keine Lieblingstonart, mein Bester?" Der Asthmatiker hat zwar mit pfeifendem Atem und sich heftig heben dem und senkendem Brustkorb gesprochen, doch ohne einen seiner An fälle zu bekommen. Jetzt endlich läßt er den Arm Gideons los und wie derholt seine Frage: „Haben Sie keine Lieblingstonart?" Gideon reibt sich den schmerzenden Arm und möchte dem lästigen Men schen entfliehen, fühlt sich jedoch wider Willen genötigt, zu antworten. „Eine Lieblingstonart? Ja, doch: e-MolI." „Sie erstaunen mich, mein Bester", erwidert der Asthmatiker. „Ich, den Sie als Misanthrop, als Pessimist zu bezeichnen beliebten, liebe die helle, strahlende, sieghafte Fis-Dur, und Sie ziehen die zwar sehr hübsch klin gende, aber doch recht traurige e-Moll allen Durtonarten vor. Wer von uns beiden ist also der Misanthrop, der Pessimist? Sie werden ein schlim mes Ende nehmen! Gehen Sie nur! Sie sind offenbar nicht mehr zu ret ten!" Ehe Gideon etwas zu sagen vermag, ist der Asthmatiker auf seinem Spazierstock auf- und davongeritten, und während ihm Gideon verblüfft nachschaut, meint er, sich entfernendes Getrappel von Hufen zu ver nehmen.. VII Gideon fühlt sich nicht wohl. Dennoch hat ihm sein behandelnder Arzt Spaziergänge verordnet, da Gideon zur Erholung nach S. gekommen ist. Also geht er gehorsam spazieren, um sein Nervenleiden zu bessern oder gar zu kurieren. Gideon fröstelt, als er die Straße betritt. Unschlüssig, welchen Weg er wählen soll, biegt er von der Platanenallee in den Park ein, von Kopf bis Fuß eingemummt in Pelzwerk. Es hat zwar seit Tagen nicht mehr ge schneit, doch der Nordost hat immer neue Schübe kalter Luft aus dem Inneren Rußlands gebracht. In der trockenen Kälte sind die noch auf ihren Zweigen verbliebenen Blät ter erstarrt. Die Lärchen sind überraschend schnell gealtert, ihr Haar ist aschblond geworden; die Gehänge der zusammengeklumpten Birken blätter noch gelber und gläserner; die Blutbuche hat einiges von ihrem Laub abgeworfen, das sich um ihren Stamm ausbreitet wie eine Lache von Blut; von den Weiden, bar ihres schimmernden Zaubers, ist nur ein wirres Gerippe geblieben; die Pappeln in ihrer Kahlheit erinnern an riesi ge, verkehrt in die Erde gerammte Besen aus Reisig. Beherrschend neben dem Weiß des liegengebliebenen Schnees und den Tupfen von ermattetem Rot und bleichendem Gelb, sind die Farben des Holzes: das Braun und Grau der Baumstämme. Nur das Grün der Konife ren kann sich behaupten, mischt sich im Park nur vereinzelt, am Rande des Ortes kräftig in die Palette. Ihre Zweige aber, die der Fichten und Tan nen, der Zypressen und Föhren, sehen aus, als habe sie jemand mit Zuckerglasur bespritzt und lassen Gideon an Weihnachten denken, an den Duft der frischen Nadeln im Zimmer und die weiß glasierten Zimt sterne am Baum. 84

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2