Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 4, 1986

Gideon um. In der Astgabel ist niemand zu sehen. Auch unter den Spa ziergängern ist er nicht zu entdecken: Der Fremde ist verschwunden. Gideon wendet seine Aufmerksamkeit einer mächtigen Blutbuche zu, die ein Geviert des Parks beherrscht. Sie hält sich tapfer und hält ihre Blätter, beugt sich unter der Last des Naßschnees, gibt aber die Blätter nicht her, die rot in dem weißen Riesenbouquet leuchten. Der Tag erwärmt sich. Schwer stürzt der Schnee von Büschen und Bäumen, und überall hört man, wie er dumpf aufschlägt, sieht man, wie er kollert und rieselt, in größeren Abständen erst, dann immer öfter. Gideon beobachtet, wie die Zweige emporschnellen, sich schütteln, strecken und heben und in wie dergewonnener Anmut im Windhauch erzittern. In den Astgabeln freilich bleiben Schneeklumpen liegen. Es hat den An schein, als hätten die Bäume sich Watte zwischen die Finger gesteckt. Die Blutbuche bleibt zwar mit weißem Streusel verziert, behauptet aber ihre Fülle an Rot. Gideon, plötzlich übermütig geworden, bückt sich, um einen Schneeball zu formen, sticht sich an etwas Spitzem — einem Splitter vom Knochen eines Baumes — und schaut zu, wie hellrotes Blut von seiner Hand ins Weiß tropft und funkelt wie ein Rubin. V Nach dem verfrühten Wintereinbruch ist es wieder wärmer geworden, um ein Geringes zwar nur, doch hat es genügt, den Schnee auf den Stra ßen und Wegen, an Rändern und Säumen schmelzen zu lassen. Nässe überall, und große Lachen an den Straßenübergängen, über die die Men schen hinwegtumen müssen. Die Blätter kleben am Boden, liegen am Grunde der Wasserrinnen und -tümpel —, eine unansehnliche Masse, abgemagert und kraftlos, platt und zerschlissen. Und war am Vortag noch eine tanzende, knisternde Menge von einzel nen, sich durch Gattung, Farbe und Form, Geäder und Größe unterschei denden Blättern. Ein Wettersturz mit dem Schnee einer einzigen Nacht und Tauwetter in seinem Gefolge haben genügt, um sie zu brechen, zu unterwerfen, gleich zumachen in einem sie alle erfassenden Schicksal, vorbestimmt von der Macht der Natur, denkt Gideon. Da meldet sich eine Stimme, ihm gleichermaßen vertraut wie lästig. Dies mal lehnt er an einem Baum, der Mann mit dem Asthma. Fast, scheint es Gideon, sind seine Lippen noch dunkler geworden, noch tiefer blau, man könnte fast sagen, mit einer Färbung ins Violette. Gideon ist keines wegs darüber verwundert, daß der Mann, dem Bild seiner Erscheinung entsprechend, beim Reden langsam und zischend die Luft in sich ein saugt, um seine Worte hervorpressen zu können. „Macht der Natur! Sie irren schon wieder, mein Bester! Es ist die Natur der Macht, die alles er klärt. Sie mögen es drehen und wenden wie ein Blatt: auf der einen Seite Natur, auf der anderen Macht. Beiden ist Gewalt als Komponente ge meinsam. Alles liegt in der Macht der Natur und in der Natur der Macht. Das ist das Blatt, das unser Leben bestimmt. Je nachdem, ob wir das Blatt von oben oder unten betrachten. Ganz einfach." Die letzten beiden Worte gehen unter in einem erschreckenden Husten anfall, der das ganze Gesicht des Mannes violett färbt und die Augäpfel hervorquellen läßt. „Sie sollten sich schonen, anstatt mir aufzulauern und mich zu belehren versuchen!" sagt Gideon halb zornig, halb mitleidsvoll. Der Asthmatiker hustet und hustet, beinah erstickend, bis er endlich seine Sprühdose aus einer Jackentasche hervorgenestelt hat und sich Er leichterung verschafft. Verlegen schaut ihm Gideon zu, weil er nicht wagt, einfach davonzuge hen. Nach und nach wird der Atem des Mannes ruhiger, entfärbt sich das Gesicht, gleiten die Augäpfel in ihre Höhlen zurück. „Wie ich sehe, geht's Ihnen besser. Guten Tag." Gideon will vorbei an dem Mann, aber der packt ihn beim Ärmel und hält ihn zurück. „Sie sagten, schonen sollte ich mich? Was sind Sie doch für ein unverstän diger Mensch. Nichts für ungut. Wären Sie einsichtiger, könnte ich beru higt meines Weges gehen. Nichts wäre mir lieber!" „Also sind Sie ein Missionar?" Gideon ist verärgert. „Ich habe nichts übrig für Wanderprediger und Weltverbesserer . . ." Weiter kommt Gideon nicht. „Sie irren schon wieder", ereifert sich der Asthmatiker und ringt erneut um Luft. „Nicht die Welt, Sie, will ich bessern, Sie Baumblättertöter!" „Ich? Ich ein Baumblättertöter?" schreit Gideon empört. Jetzt reicht es ihm. „Ich liebe Bäume, und ich liebe Blätter. Ich sammle sie sogar. Die schönsten werden gepreßt, die anderen kompostiert." „Das ist ja Ihr Fehler! Umgekehrt sollten Sie es machen: Die schönsten Blätter sollten sie kompostieren, da sie die schönste Erde geben, und die häßlichen sollten sie sammeln: die fleckigen, von Würmern zerfressenen, von Läusen befallenen. Nur die erinnern an das Elend in der Welt!" „Als genügte nicht Ihr Anblick allein, so leid es mir tut!" Nun ist Gideon wirklich zornig geworden. „Scheren Sie sich zum Teufel und lassen Sie mich in Frieden!" faucht er den Mann an, kehrt ihm den Rücken und geht eilends davon, nicht ohne ab und zu nach oben zu schauen. Aber heute bleibt der Asthmatiker auf dem Boden und kichernd und hü stelnd zurück hinter ihm. Auf dem Weg ins Hotel besucht Gideon eine Reihe von Geschäften und erkundigt sich nach dem Asthmatiker, der ihn verfolgt und belästigt, be schreibt ihn und kann nicht begreifen, daß niemand ihn kennt oder auch nur gesehen hat. Auch nicht husten und röcheln gehört? Nein, auch das nicht, sagen die Leute. Selbst in der einzigen Apotheke, wo er doch seine Medikamente kaufen müßte, ist er unbekannt. Gideon beginnt, schlecht zu schlafen. VI An einem der folgenden Tage bemerkt Gideon, daß die in der Nässe, vor allem auf Wegen und Straßen liegenden Blätter ein fortgeschrittenes Sta dium des Verfalls erreicht haben: Sie haben begonnen, zu zerfallen, die einen mehr, die anderen weniger. Das prächtige Material, aus dem das Laubwerk gemacht ist und das drei Viertel des Jahres jedem Wetter ge trotzt hat, ist nun zerschlissen und wie von Motten zerfressen. Jene Blätter hingegen, die der Wind abgetragen und getrocknet hat, war ten welkend und dorrend auf den Todesstoß eines atlantischen Sturm tiefs. Sie werden ihn nicht spüren, denn er wird ihre aus Knospen, Blü hen, Düften und Vogelsang gewobenen Träume nicht zu durchdringen vermögen. Sie werden sie mitnehmen in die Erde, die Träume. Von dort werden sie mit dem jungen Saft der Bäume wieder aufsteigen, um sich zu erneuern. Statt eines atlantischen Sturmtiefs setzt ein eisiger Wind aus Nordost ein, der die Fenster mit in Lappland gepflückten Eisblumen schmückt. Jeder einzelne Windstoß löst nunmehr die Blätter zu Tausenden los, läßt sie in Böen herabregnen, unschlüssig kreiseln, weit ab segeln, niedergleiten und -stürzen. Die Luft zwischen Wipfeln und Erde ist erfüllt vom Tanzen, Treiben und Taumeln der Blätter, und bald ist die harschverkrustete Schneedecke übersät von den verschiedengestaltigen und verschieden gefärbten Blät tern der Birken und Weiden und Eschen, der Pappeln und Birnbäume. Al lein die Buchen opfern die Blätter nur zögernd dem Sturm. Von den letz ten werden sie sich erst unter der Sonne des Frühlings trennen. Welch ein bizarres Muster! denkt Gideon, die bunte Vielfalt auf dem wei83

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